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geier über hamburg #afc #fcst

 

ESSAY: Goldener Oktober, die kühle Herbstfrische saust über die stark bevölkerten Fußballränge. Die Frühwehen der Ligastarts liegen im Orkus der Zeit, die Hoffnung auf eine glorreiche Saison ist groß, das Leuchten am fernen Horizont lockt freudig die Gemüter.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Von Pfadfinder Jack

Ortszeit Berlin, 08.10.2010. Länderspiel Deutschland-Türkei. „Die Muselmanen im Angriff“, erinnere ich mich an einen fetzigen Fußballkommentar selbiger Paarung aus den Fünfzigern, den ich auf Video ergattert hatte. Frenetische Heißblüter aus dem nahen Orient werden diesmal enttäuscht. Einen Tag später, Aufschlag Potsdamer Platz, Fußball-Anhänger kämpfen/demonstrieren für den „Erhalt der Fankultur“. Es riecht eher nach Kampf als nach Erhalt.

Viel Berliner Pöbel halt.

Wiederum einen Tag später, wieder angekommen in der Heimat. Griegstraße, Derby AFC gegen die Elstern, der Oberligaklassiker, spätestens seit sie wegen Werner Erb, der von hüben nach drüben gewechselt war, hier mal den Pfosten rausgerissen hatten. Heißgehandelte Ware heute: Tickets fürs Freundschaftsspiel AFC – FC St. Pauli-Profis.

Zeit für eine kurze, knappe, essayistische (nenne ich so wegen betontem Verzicht auf Genauigkeit und Vollständigkeit) Bestandsaufnahme der Fanszenen. Wo anfangen? Im Jolly Roger haben sie so eine Grünen-Spitzenfrau aus HH wegen deren Allianz mit der CDU aus dem Laden geschmissen, was heftigste Diskussionen Kiez-intern ausgelöst hat.

video: … wenn st. pauli kommt

Im Jolly-Fenster hängt ein Pamphlet, mit dem sinngemäßen Inhalt: „Ey Du, ja Du, wenn Du Rassist bist, Sexist, zu Farbigen Neger sagst und zu Homosexuellen schwule Sau, verpiss Dich Du Arsch.“ Klingt wie: „Gegen Intoleranz, Ihr Schweine und Arschlöcher.“ Nunja… Zur Grünenposse, ich verstehe – ganz diplomatisch – beide Flügel: Die eine Seite, weil sie diese Nur-wegen-Kokser-Schill-an-die-Macht-gekommene-Beust-Schleim/Lügen-Clique-an-deren-Fahrwasser-wir-uns-hängen-Grünen hassen, die andere, weil sie tumbe Beklopptheit im Gewande der Subkultur nicht versteht und als renitentes Gerotze entlarvt (jetzt denke ich grade, mein Duktus könnte als faschistoid kompromittiert werden, nur weil ich nicht drauf eingehe, das viele Paulianer – darf man eigentlich nicht sagen – progressiv politisch engagiert sind, genau um diese Infiltration geht es aber).

Wenn der Geier um die Kampfbahn kreist,

des Fußballs Seele nicht vergreist,

denn Hoheluft ist längst vergessen,

die Schwarzweißroten die Grasballen fressen.

Dann weiß du, hier bist du Zuhaus,

Sonntag 14 Uhr, wir rücken aus,

dann grölen wir alle AAA F C

im Sommer wie im tiefen Schnee.

Mabuse rülpst, Anarchos tratschen,

ein Anzugrentner in Badelatschen,

auch schwule Männer gibt es hier,

die trinken aber kaltes Bier,

zwei Daddys aus den Fünfzigern,

ja damals waren wir zünftig gern.

Und heute müssen wir arg aufpassen,

sonst kriegt die Gentrifidingsbums dich zu fassen,

doch noch verteidigen wir unser Revier,

hey Süße, geb mir noch ein Bier.

Um hier nicht in den Verdacht zu geraten, zu subjektiv zu sein – klar gibt es auch coole, nette Paulianer – lohnt ein Blick zum großen Bruder (hehe). Was am Altonaer Bahnhof passiert ist, ist einerseits ein Ausreißer, andrerseits ein Ausriss. Dass es da jede Menge kreuzkranke Kryptozombies mit angebauter Hirnlegasthenie gibt, weiß man von jeher. Dass die Nazis aus dem Volkspark vertrieben wurden, auch. Dass sich der Verein und die Fanszene aber eher allen Bevölkerungsschichten zugehörig fühlen und nicht nur der vermeintlich (oder reell meinetwegen) linksalternativen, ist ein Grund dafür, dass man weder den jungen Schlägerpöbel, noch den martialischen Post-Hooliganmob raus kriegt.

Zu behaupten, beim HSV gebe es keine rechten Unterströmungen, ist dann wiederum nicht ganz korrekt, da muss man den Zecken recht geben. Das fängt beim Billard in Altona-Nord (Jolly lässt grüßen): „Ey Du Schwuchtel“ an. Und hört beim Anbändeln arrivierter Faschisten auf, wo sich dann aber der stabile Überbau, in seiner Größe und Wirkungsmacht behaupten konnte.

zum täglichen ticker: altona 93 gegen fc st. pauli

So, und was machen meine Altonaer? Nunja, die posttraumatischen Störungen nach der Regional-Liga-Saison 2008/09 wirkten tief. Desaströse Zuschauerzahlen waren die Folge. Lohnt mal ein virtueller Rundgang durch die Fanseele. Fangen wir auf der Sitztribüne an. Hin- und wieder sehen wir den Gala- und ehemaligen Playboy-Chef als Quoten-Promi. Rüber zum Zeckenhügel, dort alles beim Alten. Mabuse säuft wieder. „Wie geht es?“, „Beschissen!“ In der Gegengerade dann der soziologische Querschnitt des AFC-Fanwesens: Hier ein Altanarcho aus Elmshorn mit von Narben zerfrästem Gesicht. Ein paar Pauli-Glucken sind ebenso dabei wie schärfere HSV-Ultras. Auch Normalos aus der vorgentrifizierten Ottensen-Ära. Dann so Marken wie der Opa aus der Bleickenallee. Ein buckliger älterer Herr, stets mysteriös dreinschauend dunkle Zigarren schmauchend. Fehlt nur noch der Geier auf der Schulter.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

So lieben wir alle unsere Vereine und – soviel Sozialromantik sei erlaubt – wenn du unterwegs bist, im kruden Berlin (da muss ich ja doch noch meine Mabuse-Story loswerden: Der erzählte mir nämlich mal, dass er einige Jahre in den Neunzigern in Berlin lebte. Da hatte er dann auch einen Lieblingsverein. Ich glaube irgend so eine Anarchovariante von Türkyemspor, irgendwo im alten Westen. Da lungerten sie dann Sonntags immer rum. Und Mabuse schwadronierte vom heißen Berliner Sommer in den Endneunzigern. Vom Geruch nach gammeliger Grillkohle, derbem Flesich, Bier und sommerlichem Gras. Als er mit seiner unnachahmlich sonor-suffiesken Stimme zum Höhepunkt anhob, zwitscherten zwei junge Singvögel ein süßes Liebeslied im Himmel über der Gaußstraße und fingen sozuagen seine Liebe zum Fußball auf. Hielten sie im Sekundenblitz für die Ewigkeit fest. Ich habe mir diese Stelle dutzende Male auf Kassette angehört und muss sagen, dass sind so Schätze, wo es sich lohnt, Journalist geworden zu sein und die 1000 Äonen kreuzschweren Leidens unter dem neoliberalen Kreuzrittertum stillschweigend zu akzeptieren. Leider habe ich die Aufzeichnung überspielt, wahrscheinlich mit irgendeinem schwachsinnigen Petric-Interview) – also, wenn du unterwegs bist, im kruden Berlin und auch noch die momentan zwar interessante, aber durch und durch metakapitalisierte Nationalmannschaft im gammeligen Unterleib Spandaus reinziehen musst, dazu noch die Popper aus München kennst, die noch nie was anderes im Leben erfahren haben, als zu gewinnen (auf Kosten anderer, wie sich selbstverständlich versteht), dann weißt du, wie geil es ist, Hamburger zu sein.

Und zwar wegen dem chronisch sich selber ins Nervensystem penetrierenden HSV, wegen dieser linksalternativen Moralistenglucke FC St. Pauli und wegen des tollkühnen AFC.

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Benny Semmler

Papa, Blogger, Mitgründer FRISCHER FILM, Seniorenspieler USC Paloma, Mitglied UnterstützerClub des FC St. Pauli, Towers-Fan und Gotnexxt.de-Follower.