Top

interview | die pauli-docs

In den letzten Jahren hat sich im Profifußball auch die medizinische Betreuung enorm weiterentwickelt. Der FC St. Pauli stellt dabei eine der renommiertesten medizinischen Abteilungen in Deutschland und konnte so die Zahl der Verletzungen um 50 Prozent reduzieren. Ein Interview.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Im Interview geben die Mannschaftsärzte Dr. Carsten Lütten und Dr. Johannes Holz Einblicke in ihre Arbeit, erklären die Gefahren der Kälte, neue Methoden und die obligatorischen Medizinchecks.

blog-trifft-ball.de: In den letzten Jahren hat sich im Profifußball auch der medizinische Sektor enorm weiterentwickelt. Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Entwicklungen beim FC St. Pauli?
Dr. Holz:
Nun, als wir vor knapp zehn Jahren hier übernommen haben, begrenzte sich die Leistungsanalyse auf Laktatuntersuchungen. Im Grunde könnte man sagen: Es bestand keine kontinuierliche, sportwissenschaftliche Betreuung. Nun können wir sagen: Mit dem Antritt von Holger Stanislawski im Jahre 2006 haben sich viele Dinge geändert, und dies hat nachhaltig zur positiven Veränderung beigetragen.

btb: In einem Vorgespräch sagten Sie, dass Sie die Anzahl der Verletzungen innerhalb der letzten Jahre halbieren konnten.
Dr. Lütten:
Man sagt, es fallen 2,1 Verletzungen pro Spieler pro Saison an. In der Summe kommen also 80 bis 90 Verletzungen auf eine Mannschaft zu. Wir unterscheiden zwischen leichten, mittleren und schweren Verletzungen. Schwer sind Verletzungen die über die 30-Tages-Grenze hinausgehen. Eine Spitzenmannschaft im europäischen Fußball hat fünf bis sieben schwere Verletzungen pro Spielzeit – da sollte man natürlich nicht drüber liegen, eher darunter. Wir liegen inzwischen weit darunter. Und ja, wir haben nun circa 50 Prozent weniger Verletzungen als noch vor zehn Jahren.

Der aktuelle Wochenticker: Das ist los in Hamburgs Amateurlager.

btb: Was ist passiert?
Dr. Lütten:
Das damalige Trainingskonzept bestand darin, Fähnchen zu umdribbeln und auf das Tor zu schießen. So kannten wir das damals. Heute gibt es ein Funktionsteam, regelmäßige Leistungstest samt Auswertung und anschließenden Meetings. Alle sechs bis acht Wochen tauschen wir uns mit Holger Stanislawski aus. Er bekommt die von uns angesammelten Informationen an die Hand. Danach wird die Trainings- und Spielausrichtung mitunter neu gestaltet. Das ist neu.

btb: Was meinen Sie mit Leistungstests? Was wird da konkret getestet?
Dr. Holz:
Ein erster Schritt im Jahr 2006 war die Überprüfung der sportlichen Leistungsfähigkeiten. Denn wir wissen alle, dass im Fußball unzählige Qualitäten gefordert werden. Wir wollten wissen: Wie gut sind die Spieler tatsächlich? Wie hoch kann ein Spieler springen? Wie schnell kann ein Spieler von null auf 30 Meter sprinten? Wie kräftig ist der Oberkörper? Ab der Regionalligasaison haben wir kontinuierlich standardisierte Messungen durchgeführt.

btb: Was hat die Forschung gebracht?
Dr. Holz:
Erstaunliche Erkenntnisse. Wir wissen, dass ein Marius Ebbers in der körperlichen Form seines Lebens ist. Der war mit Anfang 20 nicht besser als zum jetzigen Zeitpunkt. Ein Mathias Hain, der in der Liga zu uns gekommen ist, bedankte sich für die eingeführten Maßnahmen. Er sagte, er würde sonst nicht mehr Fußball spielen.

btb: Was genau verlangen Sie den Spieler nun ab? Können Sie das Ganze noch genauer skizzieren?
Dr. Lütten: Spieler mit wenig Sprungkraft mussten springen üben. Langsame Spieler mussten Sprints trainieren. Jeder Spieler hat seinen eigenen Athletikplan erhalten und musste gezielt an seinen Schwachstellen trainieren. Und am Ende erzielte das eingeführte Programm eben nicht nur Sprünge in der Leistungseffizienz sondern auch in der Verletzungsprophylaxe. Es kamen viele positive Dinge zusammen. Die Spieler sind physisch deutlich stabiler geworden. Das heißt, sie sind am Ende auch weniger verletzungsanfällig.

btb: Und die klinsmannschen Gummibänder sind zum Einsatz gekommen.
Dr. Holz:
Unter anderem. Aber Holger Stanislawski, Andre Trulsen und Klaus-Peter Nemet haben die gesamte Trainingsarbeit neu überdacht und entsprechend geändert. Pedro Gonzalez wurde als Fitnesscoach in das Funktionsteam geholt. Fortan trieben sie die Arbeit an den genannten Schwachstellen voran und haben viele andere Formen eingesetzt. Dadurch erhöhten sie die körperliche Qualität der Akteure ungemein, und auch die verletzungspräventiven Übungen erzielten ihre Resultate.

btb: Der Aufstieg in die 2. Liga gelang.
Dr. Holz:
Ja, das Produkt war glänzend: Vom 13. Platz in der Regionalliga schafften wir innerhalb weniger Monate den Sprung auf Platz 1. Doch nicht nur das änderte sich. Plötzlich gelangen uns Tore in der Schlussphase, dagegen kassierten wir nur noch ganz wenige Treffer gegen uns. Und wie gesagt: Wir konnten trotz mehr Trainings das Verletzungsaufkommen halbieren.

btb: Kann man sagen, dass in vielen anderen Sportarten härter trainiert wird?
Dr. Holz:
Zumindest wissen wir durch eine Untersuchung von Pedro Gonzalez, dass ein Bundesligaprofi in der Regel 10,1 Stunden in der Woche mit Training beschäftigt ist. Unter uns: Das ist nicht viel.

btb: Zu Beginn des Gesprächs haben Sie bereits die Laktatuntersuchungen angesprochen. Es klang ein wenig heraus, dass Sie nicht unbedingt ein Fürsprecher dieser Leistungsdiagnostik sind…
Dr. Holz:
Anhand der Laktatwerte lassen sich lediglich die Ausdauerwerte beurteilen. Diese Daten sind interessant, jedoch in ihrer Aussagekraft begrenzt. Wir sprechen also von einem einzigen Bereich, den wir beleuchten, wissen aber, dass der Fußball heutzutage viel, viel komplexer zu betrachten ist. Spielerische Fähigkeiten können ebenso wenig wie mentale bewertet werden. Insofern: Laktatdiagnostik ist ein wichtiger Leistungstest und muss regelmäßig gemacht werden. Aber sich allein auf die Laktatwerte zu verlassen, das ist Unsinn.

Dr. Lütten: Das Problem am Laktatwert ist: Es gibt im Grunde keine guten, beziehungsweise schlechten Wert. Jeder Mensch hat seinen individuellen Wert. Dasselbe gilt für den Sprung oder Krafttest. Ein Gerald Asamoah hat in seiner Veranlagung schon deutlich mehr Kraftvermögen, schafft von daher keine gewaltigen Entwicklungssprünge mehr. Andere Spieler, die mit weniger Kraft, können mit dem richtigen Training auch mit Ende 20 noch richtig explodieren.

Dr. Holz: Es gab Spieler, die bereits damals aus dem Stand knapp 50 Zentimeter hoch gesprungen sind. Das werden andere Profis vielleicht nie erreichen – trotz Sprungtrainings.

btb: Werden solche Dinge auch in den obligatorischen Medizinchecks bei Neuverpflichtungen gemessen? Oder wie sieht so ein Test aus?
Dr. Holz: Der Medizin-Check besteht aus zwei Teilen und wird vom DFB vorgegeben. Zu Beginn erstellt man einen Körperstatus; das bedeutet, dass man sich alle Gelenke, Muskelfunktionen, den Oberkörper und die Wirbelsäule anschaut. Bei Vorverletzungen, beispielsweise einem Kreuzbandriss, muss man die Stabilität des Knies noch mal speziell überprüfen. Der zweite Teil findet in einem sportmedizinischen Institut statt. Da werden die Spieler internistisch durchgeleuchtet. Das beinhaltet einen Ausbelastungstest auf dem Fahrradergometer oder auf einem Laufband. Es wird ein Belastungs-EKG und eine Herzechokardiographie gemacht. Neuerdings bieten wir den Spielern auch eine Herzkernspintomographie an. Das komplette Programm dauert so vier, fünf Stunden.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern
Wochenticker 01: Intim! Schnelsen Trainingspläne aufgetaucht
Wochenticker 02: Transfers. Gerüchte. Fixes.
Wochenticker 03: Explosion der Victoriabomben

btb: Gerald Asamoah drohte zu Saisonbeginn mit einem Teilsehnenabriss in der rechten Oberschenkelmuskulatur mehrere Monate auszufallen. Rafael van der Vaart ist mit derselben Verletzung mal eine komplette Hinrunde ausgefallen. Heute wissen wir: Asamaoh kehrte bereits nach nur fünf Wochen zurück auf den Trainingsplatz. Wie lautet Ihre Erklärung?
Dr. Lütten:
Rafael van der Vaart war sicherlich ungewöhnlich lange außer Gefecht. Bei Gerald Asamoah verlief die Heilung dagegen in der Tat außergewöhnlich schnell. Als Erklärung vielleicht: Wir haben Asamoah aktivierte und konzentrierte Thrombozytenplättchen an die Sehne gespritzt, um den Heilungsprozess zu fördern. Das hat hervorragend geklappt und dieser Eingriff hat das Ganze sicherlich beschleunigt – ist jedoch eine sehr neue Methode.

btb: Zum Schluss: Trügt der Schein, oder steigt die Anzahl der Verletzungen in den kalten Monaten erheblich?
Dr. Holz:
Es gibt tatsächlich Beobachtungen, dass in den kalten Monaten häufiger Achillessehnenprobleme auftreten. Das liegt vor allem an den bisweilen matschigen Platzverhältnissen. Dann sinkt die Ferse tiefer in den Boden ein. Ist der Boden gefroren, sinkt die Ferse gar nicht ein. Damit ergeben sich unschöne Belastungen für den Rückfuss.

Die Praxis der Mannschaftsärzte

Benny Semmler

Papa, Blogger, Mitgründer FRISCHER FILM, Seniorenspieler USC Paloma, Mitglied UnterstützerClub des FC St. Pauli, Towers-Fan und Gotnexxt.de-Follower.