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Psychologe Westbrock: Typen sind wichtiger als Talent

Stefan Westbrock betreut den SC Victoria seit vier Wochen als Sportpsychologe. Einst selbst an der Hoheluft aktiv, erklärt der 33-Jährige, worauf es im Abstiegskampf ankommt, was Trainer Lutz Göttling von ihm lernen und woran Star Benny Hoose arbeiten kann.

 

Herr Westbrock, wie finden Sie die Überschrift: Victoria braucht den Psycho-Doc!
Ich kenne diese Klischees, aber damit beschäftige ich mich nicht. Psychologen sind mittlerweile so normal wie Koordinationstraining. Das gab es vor zwanzig Jahren auch nicht, bis man sah, es bringt was. Man wird beweglicher. Wir machen die Psyche beweglicher. Es geht auch nicht allein um den Abstiegskampf, sondern um mentales Coaching – Stress abzubauen und die Personen stabiler in ihrem Charakter zu machen.

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Wie haben die Spieler es aufgenommen, als da auf einmal ein Psychologe vor Ihnen stand?
Es gab gemischte Reaktionen, aber überwiegend positive. Das Gute ist ja, dass ich zum Einen auch noch ein bisschen wie ein Fußballer aussehe und zum Anderen ein paar Spieler noch aus meiner aktiven Zeit kenne.

Ihr erster Eindruck vom Kader?
Sie gehen mit der Situation gut um, aber jeder kann noch besser mit Niederlagen umgehen. Da setzen wir an.

Kommt die Hilfe nicht zu spät? Die Saison ist fast gelaufen …
Schwer reißerisch, diese Frage. Es geht nicht um Hilfe, sondern Unterstützung und Entwicklung. Kurzfristig kannst du eine Kiste Wasser durch die Kabine werfen und hast sofort einen Effekt, aber das geht eben nur einmal. Wir wollen nicht in den Hintern treten. Unsere Arbeit geht auf Nachhaltigkeit. Persönlichkeitsschulung geht nicht innerhalb von zwei Tagen. Ich glaube dennoch, dass die Arbeit jetzt schon etwas bringt.

Wie bekommt man einem Team beigebracht, dass Niederlagen normal sind?
Nehmen wir Bruno Labbadia und Jürgen Klopp als Beispiel. Mich hat es geschüttelt, als Labbadia 17.20 Uhr vor die Kameras ging und richtig lospolterte: „Ein scheiss Spiel, schnell abhaken. Der Gedanke richtet sich ab jetzt auf das nächste Spiel. Wir müssen die Fehler abhaken. Niederlagen einstecken heißt manchmal auch: Man, es ist echt grad alles kacke. Das macht ein Jürgen Klopp dann zum Beispiel. Der sagt: „Jetzt heulen wir bis Montag und dann geht’s weiter.“ Das halte ich für viel gesünder. Auch mal traurig sein dürfen. Niederlagen einstecken heißt nicht nur taktisch Fehler zu analysieren, sondern auch emotional zu verarbeiten. Aber Victoria macht das gut. Mit dem 0:5 in Wolfsburg sind sie gut umgegangen, haben das Positive gesehen und dabei natürlich das Negative nicht vergessen, aber sie haben es gesund und klug verarbeitet.

Woran arbeiten Sie genau?
Die Spieler machen einen Persönlichkeitstest. Und wir testen den Charakter und erkennen daran, ob wir einen Spieler haben, der vor dem Tor selbst abzieht, oder den besser Postierten anspielt. Auf Basis dieser Tests gehen wir auf die Spieler los.

Welche Persönlichkeitstypen treffen Sie an?
Trainer Lutz Göttling und Ronald Lotz passen fast schon zu perfekt zusammen. Sie sind beide sehr gradlinig, strukturiert und sehr auf Ordnung bedacht. Da ist kein Streit, kein Krach, viel Harmonie. Was auch Gefahren in der Mannschaftskultur fabrizieren kann. Deswegen ist ja jetzt ein Sviel mit an Bord, der da einfach etwas anders tickt.

Was heißt das ganz unpsychologisch und im Blog-Sprech?
Grundsätzlich gibt es jene Typen: die Arbeiter, die Teamplayer, die Kreativen und die dominanten Effenbergs. Bei Victoria gibt es zu wenig dieser Effenbergs. Die Spieler sind alle sehr gradlinig. Und da der Trainer das auch ist, fehlt ein bisschen diese Kulturbreite. Mehr unterschiedliche Typen wären nicht schlecht. Denn, durch die Gleicheit ist das Spiel manchmal zu kontrolliert und ich sehe beim Spiel zuletzt gegen Wilhelmshaven beispielsweise, was der einzelne Spieler in der nächsten Aktion machen wird. Die Kreativität fehlt phasenweise.

Fehlt ein Roger Stilz aus der Vorsaison?
Vielleicht. Aber das wäre ein Alibi für die jetzige Mannschaft, die durchaus trotzdem genug Potenzial hat das ohne einen Roger Stilz zu schaffen. Aber ein Leader, mit klaren Ansprachen, eine Drecksau, wo manche auch Angst haben und vielleicht dadurch etwas mehr laufen, die fehlt. Die aktuellen Spieler werden wir nicht verändern können, die bleiben so, aber wir können sie vielleicht dahin coachen, dass sie etwas dominanter werden.

Benny Hoose kloppt in der 90.Minute einen Elfmeter im Abstiegskampfspiel gegen Wilhelmshaven rein. Ist der dominant?
Vor allem, wie er den geschossen hat, zeigt das. Unter die Latte. In so einer Phase. Da siehst du, dass er stabil ist. Ich habe sein Profil schon vor eineinhalb Jahren gesehen, und dachte mir, was das für ein geiles Profil ist. Aber auch an ihm gibt es Aspekte, wie bei jedem, wo die Entwicklungspotenzial haben.

Ein Beispiel?
Wie er nicht unbedingt für sich, sondern für die Mannschaft noch aktiver sein kann. Er hat einen dominanten Status, aufgrund seiner Leistungen, aber wenn irgendetwas nicht läuft, ist er schnell am Hadern. Ein Teamplayer neben ihm, welcher die Schuld zum Wohle der anderen erstmal auf sich lasten würde, bekommt von ihm das Gefühl: Der kritisiert mich. Und das kostet andere Energie. Das macht Benny unbewusst und will damit niemanden kritisieren, aber andere Spieler nehmen das eben so auf, wenn der wohl beste Spieler im Kader hadert. Er unterstützt die Mannschaft natürlich auch wieder, indem er dann in Stresssituationen den Ball unter das Dach haut. Eine Coachingmaßnahme ist dann, den spielern klar zu machen, dass sich Bennys Kritik nie gegen das Team richtet. Ist das allen klar, sind sie wieder ein Stück harmonischer.

Inwieweit profitiert der Trainer von Ihrer Arbeit?
Indem der Trainer mehr über die einzelnen Typen weiß, kann er sie ergebnisorientierter und intensiver erreichen und erfährt vor allem, wie er sie erreicht. Es gibt Spieler, die in der erster Linie Spaß haben wollen. Die sagen sich nun nicht: „Och, mir egal, ob wir absteigen“, aber die sehen sich eben erst im Vordergrund und wollen mit Spaß gewinnen. Andere sagen sich: „Scheissegal wie, wir wollen gewinnen.“ Das ist wichtig untereinander, dass der eine Spieler vom anderen weiß, wie er es sieht. Jede Persönlichkeit zu respektieren so wie sie ist, um da anzusetzen, ist für Lutz Göttling und schließlich auch für die Spieler wichtig. Viele Trainer machen den Fehler und sagen sich: Ich habe das so gelernt, also muss mein Spieler das so machen. Das machen die, die sich nicht für die Spielerkultur interessieren.

Ist es besser, lieber nach Typen als nach Talent aufzustellen?
Mein Gefühl tendiert zu Ja. Neulich fiel mir bei einem Spielerpärchen auf, dass sie ganz unterschiedliche Typen sind. Ich habe vorher mit beiden nicht gesprochen, sondern kannte nur ihre Testergebnisse und dachte: Da gibt es eine Diskrepanz, die werden nicht miteinander reden. Und das trat ein. Es gibt Spieler bei Victoria, die aus psychologischer Sicht nicht zusammen spielen sollten. Ist dies jedoch trotzdem der Fall, funktioniert es erst dann, wenn man beiden vermittelt, auf welcher Welle sein Nebenmann funkt. Wenn die beiden voneinander wissen, dass sie nicht viel miteinander reden, kann man eine Basis schaffen, dass sie anderweitig klarkommen. Kriegen Sie das hin, gibt es mehr Erfolg. Jeder Charakter muss respektiert werden um den anderen zu verstehen.

Nun steckt der Victoria mitten im Abstiegskampf. Was ist jetzt aus psychologischer Sicht wichtig?
Der Laie würde sagen: Grundsätzlich sollten sie gewinnen. Erfolgserlebnisse motivieren nicht nur, sondern sind auch wichtig. Vor allem, weil es nicht mehr viele Spiele sind. Aber das setzt sie unter Druck. Und den nehme ich raus. Es muss harmonisch bleiben, sie sollten weiter zu sich finden und sich vertrauen. Das ist wichtig.

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Sie arbeiten beim Negativfall. Der SC Victoria steht vor dem Abstieg. Wünschten Sie sich lieber ein Erfolgsteam zu coachen?
Genau so betrachte ich es eben nicht. Das ist kein Negativfall, sondern ein Positivfall: Man kann nur nach oben. Wenn ich den Tabellenersten coache, kann man das auch als Negativfall sehen. Nehmen wir die Bayern. Da geht es darum den Mut zu halten. Oder nehmen wir Wolfsburgs Amateure. Die haben bestimmt richtig Druck, weil sie aufsteigen sollen. In Wolfsburg steht ein Weltkonzern dahinter, da wird nicht langfristig gedacht, sondern alles muss möglichst flott gehen. Wenn Victoria absteigt, dann geht es eben runter in die Oberliga und dann geht es wieder hoch.

Wenn der SC Victoria die Regionalliga hält: Gibt es dann eine Psychologen-Prämie?
Nein.

Das Buch „Der Weg zum Sieg – Optimale Leistungssteigerung durch Charaktertraining“ von Stefan Westbrock und drei weiteren Mitschreibern seines Unternehmens „deepvelop – Institut für Sport und Psychologie“ gibt’s im Handel zu erwerben. Oder auch zu kaufen.

Harry Jurkschat

Seit Gründung mit auf dem brennenden BTB-Rasen. Im Gegensatz zu Semmler ist Jurkschat smart. Eine Mischung aus Mehmet Scholl und Günter Netzer. Der ewig 31-Jährige Insiderexperte harmoniert sich von Meppen bis Kiel, ist der Ausbügler und Staubsauger in der 2. Reihe. Dazu kommt aufgrund internationaler Fussball-Erfahrung (6 Länderspiele für Deutschland) Know-How im Wesentlichen. Manko: Bisweilen zu symphatisch und häufig mit den Sekretärinnen beschäftigt.