Top

Die Reminiszenz an den „alten“ Fußball

Die Fußballwelt diskutiert zurzeit hauptsächlich über diese eine Szene. Das Foul des Kolumbianers Zuniga, das gleichbedeutend mit Neymars WM-Aus sein sollte, erhitzt die Gemüter wie kaum ein anderes Foul in den letzten Jahren. Im Kreuzfeuer der Kritik: die bei der WM inkonsequenten Schiedsrichter. Wir sprachen auch mit zwei Nordlichtern über diese Thematik.

Foto: noveski.com

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Es gibt so Tage, da würde auch der Rasen gerne ein wenig weinen. Am letzten Freitag war so ein Tag. Spät am Abend, als der deutsche Fußballfan noch im Maximalzustand der Euphorie verweilte, duellierten sich die Kolumbianer und Brasilianer auf die bisher derbste Art der WM. Selbst der  bisherige Antiklassiker der WM, inszeniert von Costa Rica und Griechenland, konnte dem wüsten Geplärre der Südamerikaner keine Paroli bieten.

Ein Geplärre, das sich auch in den Statistiken wiederspiegelte. Mit 52 Fouls registrierten die emsigen Beobachter eine Zahl, die  mehr einer Dunkelziffer gleicht. Geahndet wurde längst nicht jeder Tritt, Schlag oder Hieb.

Das große Hauen und Stechen, vom ARD-Experten Mehmet Scholl (►zur Wutrede) im Epilog mit einem wütigen Monolog bedacht, fand jedoch kaum Fans vor den Fernsehbildschirmen. In Anbetracht der schweren Neymar Verletzung war das auch wenig überraschend und empathisch absolut nachvollziehbar. Wie aber, wäre es ohne den dramatischen Fall des Helden gewesen?

Die ganze WM wird nun für die harte Gangart kritisiert. Kommentatoren im Radio schwadronieren über die fehlende Klasse beim interkontinentalen Kräftemessen, monieren fast rührselig die fehlende Leichtigkeit. Ein 4:0 der Holländer, so scheint es, wäre vielen Experten lieber gewesen als ein hochdramatisches Elfmeterduell mit wackeren Costa Ricanern. Das WM-Turnier, selbst in der Breite so eng wie selten zuvor, ist für die einen zäh und trocken, für andere aber alles andere als lau. Schließlich vermochte selbst das vermeintlich klare Duell zwischen Argentinien und Iran mit Spannung zu fesseln.

Für Rostocks Legende Timo Lange, einen harten Kicker der alten Schule, ist das vor allem mit der geschlossenen Spielweise der Außenseiter zu begründen: „Man kann den kleinen Nationen doch nicht vorwerfen, dass sie ihr Heil in der Verteidigung suchen. Die machen es noch mit viel Leidenschaft richtig gut.“, lobt der ehemalige Mittelfeld- und Abwehrakteur der Ostseestädter.

Eine Spielweise, die in den 90er noch Gang und Gebe war, führt Lange weiter aus: „Es wurde einfach härter, aber genauso fair gespielt. Dadurch sah vieles brutaler aus, als es letztendlich war. Ich meine, dass es viele der heutigen Gelben Karten vor zehn, fünfzehn Jahren, nicht gegeben hätte.“

Ein Umstand, der das harte Spielen gefährlich macht. Ein kartenfreudiger Schiri, bei dem der Rote nur knapp neben dem Gelben Karton weilt, würde den harten Jungs aus Algerien, Griechenland oder Uruguay mit Sicherheit zusetzen. Doch „Kleinlichkeiten“, so zeigen die letzten drei Wochen, wurden bisher nur selten pedantisch geahndet.

Was für die einen „mangelnder“ Schutz für die Feingeister ist, öffnet den kleinen zumindest eine vage Erfolgsaussicht. Alleine die Reminiszenz auf das Testspiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen Kamerun macht klar, wie probat das Mittel der härteren Gangart nach wie vor ist. Nach zehn ekstatischen Minuten, die Reus und Kollegen in den Boden von Gladbach zelebrierten, brachten grob holzende Kameruner die Wende. Das deutsche Spiel verlor die Leichtfüßigkeit, statt mit tiefen Pässen in die gegnerischen Reihen, operierte ein Toni Kroos angestachelt und entnervt als grätschende Instanz im defensiven Mittelfeld. Verletzt wurde niemand, anders als bei einem fairen Zweikampf, wenige Tage später gegen Armenien.

„Trainer, nur damit du Bescheid weißt. Erst grätsche ich den Zehner um, dann geh‘ ich auf den Linienrichter los “- ein Zitat, das ziemlich genau von einem ehemaligen Star der Hamburger Oberliga überliefert ist. Zum Zeitpunkt der derben taktischen Initiative des Spielers liegt die eigene Mannschaft mit 0:2 hinten, am Ende  wird es ein Unentschieden. Den Gegner piesacken, ihn reizen und nerven, dass ist weit mehr als unsportliches Gehabe. Es ist Psychologie.

Psychologie, die im Erfolgsfall den (Selbst)-Kontrollverlust des eigentlich überlegenen Gegners auslöst. Den Kontrahenten aufs eigene Niveau hinunterziehen – das fällt oftmals leichter, als sich auf das entsprechend höhere Level zu hieven.

Karsten Neitzel, Erfolgstrainer bei der KSV Holstein, sieht es ähnlich. Der für seine große Fairness unter Kollegen sehr geschätzte Fußballlehrer, hat zur Thematik eine differenzierte Meinung: „Ich glaube, kein Trainer stört sich daran, wenn seine Jungs im Zweikampf griffig sind. Aber ebenso glaube ich, dass keiner gerne bewusst brutale Fouls sieht, oder gar fordert. Die Fairness und die Rücksicht auf die Gesundheit des Gegenspielers, sind Werte, die man niemals vergessen darf.“

Das eine „griffige“ Gangart auch taktische Vorteile mitbringen kann, will Neitzel nicht bestreiten: „Es ist doch klar, wenn es mal nicht läuft, dass man sich über Zweikämpfe ins Spiel zurück kämpfen kann. Allgemein, so glaube ich, hat es doch die Mehrzahl an Trainern lieber, wenn man einmal zu oft als einmal zu wenig ins direkte Duell geht.“

Dennoch, so zeigt es nicht nur die WM, sondern auch die Aussagen der zitierten Trainer, gleicht die Taktik des intensivierten Körpereinsatzes noch immer einer tabuisierten Thematik.

Wirklich bekennen will sich niemand dazu, dass es zumindest zwischen den Zeilen ähnliche Ansagen an die Spieler gibt. Auch, weil Beispiele demonstrieren, wie groß der Gegenwind in unglücklichen Fällen ist. Nordlicht Carsten Jancker, erlebte das vor nicht allzu langer Zeit in Wien.

Beim Kick seiner Rapid beim Klassenfeind Red Bull Salzburg, forderte er seinen Spieler Brian Behrendt dazu auf, seinem Gegner „aufs Knie zu steigen“. Die Aufforderung, in ihrem Ton sicherlich viel zu scharf formuliert, sorgte für ein gewaltiges Medienecho. Der zuvor stets faire Jancker, spielte auf einmal in der Rolle des totalen Buhmanns. Das, obwohl „steige ihn mal aufs Knie“ mit Leichtigkeit ins „zieh das Foul“ zu übersetzen ist.

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Dabei ist das „härtere Einsteigen“ in anderen Sportarten längst akzeptiert. Im Basketball begrüßen Kommentatoren einen eingewechselten Rollenspieler, dessen Stil durch eine besonders hohe „Einsatzbereitschaft“ gekennzeichnet ist, nicht selten mit Applaus. Im Eishockey erfahren „gute Checks“ eine ausführliche Belobigung. Checks, die in fast allen Fällen fair und mit einem Mindestmaß an Rücksicht gefahren werden. Auch, weil jegliche Überspannung mit Sanktionen verbunden ist. Den Handballsport könnte man an dieser Stelle ebenfalls  ausführlich platzieren.

Der Fall Neymar, in seiner gesamten Tragik für fast jeden Fußballfan beklemmend, ist aber weit mehr als ein zu tief trauriges Schicksal. Denn der rustikale Einsatz Zunigas, der mit Sicherheit auf keine Verletzung abzielte, hat dem Spielstil der „Kleinen“ vermutlich den letzten Sexappeal genommen.

Ein Sexappeal, der den sympathischen Erfolgen der Außenseiter überhaupt erst begünstigte. Aber leider, eine Verletzungsgeschichte zu viel schrieb.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.