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Ein Schreiben an den HSV: Denkt an Tante Gretel

Letztens habe ich mich gefragt, was mich denn so mit dem HSV verbindet. Minutenlang war ich am Sinnieren. Immerhin taucht dieser Verein pausenlos in meinem Leben auf, ob ich es nun will oder nicht. Er ist nun mal da. Und jeder Heinz, ganz gleich wie rautenbetankt er ist, besitzt eine kräftige Meinung zum Hamburger Sport-Verein. Das ist, wen wundert’s, auch bei mir der Fall. Und so drängten sich in meinen HSV-Moment zunächst die große Spieler auf, die mit Küsten-Flair, wie Martin Pieckenhagen, Stefan Beinlich oder Sergej Barbarez. An Kultkicker ohne koggische Vergangenheit, wie Hans-Jörg Butt, Bernd Hollerbach und ja, ich fand ihn wirklich super, Bernardo Romeo.

Das war aber nur das eine. Wo ich so über den HSV gedanklich schwadronierte, fiel mir jemand ein, den ich fast in meinen Gedankengängen vergessen hätte. Dabei ist sie meine schönste HSV-Erinnerung.

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Tante Gretel, eine sehr weit entfernte Verwandte aus Hamburg-Wilhelmsburg, kam uns früher einmal im Jahr besuchen. Eine mondäne ältere Dame, die Haare längst schneeweißlich meliert, das in Falten gelegte Gesicht von vielen Jahren zeugend. Eigentlich war sie eine normale, vielleicht etwas edlere ältere Frau. Mit eigenem Kaffeeservice, das nur zu ihren Besuchzeiten aus der Glasvitrine herausgekramt wurde. Elegant gekleidet und immer, fast schon klischeehaft, mit Bongs in den Taschen, was mir, ich denke ich war maximal acht, natürlich gefiel.

Tante Gretel, wie ich sie im Grundschulalter unwissend über ihren wahren Namen nannte, war aber besonders. Sie war Fußballfan durch und durch, konnte selbst im Alter von achtzig Jahren die Kader aller Bundesligisten mühelos aufzählen.

Sie war, und ich glaube, das kann ich mit Recht behaupten, ein besonders großer HSV-Fan. Wenn es um den HSV ging, dann konnte sie sogar in größter Eleganz in den Trashtalk hinüberschweben. Mit 80! Wenn ihr Verein verlor und sie zeitgleich bei uns zu Besuch war-  ich könnte schwören, dass sie tieftraurig war. Zumindest für 30 Minuten. Man sah es ihr irgendwie an, ohne klare Indizien zu vernehmen.

Am vorletzten Wochenende, ich schaute den HSV in einer Rostocker Kneipe, dachte ich wieder an die liebgewonnene HSV-Anhängerin, die irgendwann, ich meine es war vor zehn Jahren, aufhörte uns zu besuchen.

Ich sah einen HSV, den sie wohl nie hätte sehen wollen. Eine Mannschaft, die meines Erachtens noch schlechter spielte als im Vorjahr. Von Paderborn nicht nur geschlagen, sondern gedemütigt wurde. Ich hatte Mitleid.

Im letzten Jahr war es noch anders. Da freute ich mich, wenn der HSV verlor, wie er mit Volldampf eine Liga tiefer steuerte, den Abgrund entgegengondelte. Und am Ende nur nicht abstiegen, weil sich noch Dümmere fanden. Ich war richtig sauer, als sie sich gegen Fürth durchwurstelten. Als die Skandallust nicht befriedigt wurde.

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Das alles verwandelte sich in Neugier, als die diesjährige Saisonvorbereitung aus der Taufe gehoben wurde. Ich wollte sehen, wie der HSV auf die Beine kommt und ja, ich staunte nicht schlecht, was sich der HSV so an neuen Spielerkarossen auf den Hof gestellt hat. Mensch, Mensch, man freute sich wieder auf diesen großen Verein.

Auch, weil ich irgendwann, über den HSV diskutierend, an Tante Gretel dachte. An die Wette, die ich einmal gegen sie gewann, als der FC Hansa damals, im Spätherbst 2001, das letzte Mal in Stellingen gewann. Ich schämte mich ein bisschen, mir so viel Schlechtes für einen Verein gewünscht zu haben, der doch so vielen etwas bedeutet.

So saß ich am Samstag, das Gesicht irgendwann in meinen Händen vergraben, vor Bier und Leinwand, und war einfach traurig. Weil auch der HSV, wie ich lange vergaß, ein Stück meiner Fußballgeschichte ist. Und weil ich mitfühlen konnte, mit allen, die gerade von Paderborn vermöbelt wurden. Am Wochenende werde ich wieder HSV schauen. Und ja, ich drücke dieses Mal die Daumen. Ein bisschen auch für Tante Gretel.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.