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Wahnsinnige Auswärtsfahrten: Boizenburger im Reiserausch

Boizenburg an der Elbe – ein schöner Ort im Westen Mecklenburg-Vorpommerns. Seit neuestem auch mit Verbandsliga-Fußballern ausgestattet. Die haben aber ein Problem: Trotz der Nähe zu Weltstadt Hamburg ist man irgendwie am Arsch der Welt. Zumindest in Mecklenburgs Premiumklasse. Wir sprachen mit dem Sportlichen Leiter über die  SG Aufbau – und 6370 Reisekilometern.

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6370 Kilometer. Das ist in etwa zweimal die Strecke der Tour de France aus diesem Jahr. Und sogar 200 Kilometer mehr als die Luftlinie Hamburg-New York misst. Für Bundesligisten, die von Freiburg bis Berlin und von München nach Bremen tingeln, meist ganz komfortabel im Flugzeug, sind die 6370 Kilometer jedoch eine kleine Summe.

Auch von der zweiten bis zur vierten Liga erntet diese Zahl eher ein leises bis dezentes Kopfschütteln. Ab der Oberliga aber, so meint man, wird es dann jedoch familiär. Zum Beispiel wie in der S-Bahn-Liga im Umkreis von Hamburg, die trotz ihrer Ausdehnung nach Niedersachsen und Schleswig-Holstein durch ein vertrautes Umfeld besticht.

Den Fußballern der SG Aufbau Boizenburg ist diese Liga ebenfalls allzu gut vertraut. Dassendorf, die Meisterstadt aus dem Vorjahr, liegt nur ein paar Kilometer gen Westen, die Entfernung zum Hamburger Stadtkern beträgt gerade einmal 65 Kilometer. Einige Spieler und viele Boizenburger arbeiten in der Stadt, schlängeln sich wochentags im Pendlerstrom der Elbe entlang in die Metropole. Und auch die Fußballplätze an der Alster erkundete man bereits umfassend, Tests auf Hamburger Geläufen gehörten zuletzt zum Trott der Sommervorbereitungen. Auch die Schönteich-Elf aus Dassendorf soll bald in einem Freundschaftsspiel bespielt werden, gerüchtet es aus der 10500 Einwohnerstadt.

Wenn die SG Aufbau Boizenburg aber im Ligabetrieb auswärts antreten möchte, dann ist es mit den Katzensprüngen vorbei. Dann heißen die Adressaten der Auswärtsfahrten nicht Altona oder Victoria, sondern zuweilen Ueckermünde, Anklam oder Torgelow. 15 Auswärtsspiele, insgesamt addieren sich besagte 6370 Kilometer auf’s Tacho. Eine stolze Bilanz, die ins Geld geht. Das Mecklenburg-Vorpommern ein Flächenland ist, sich phasenweiße über fast menschenleere Moränenlandstriche zwängt, wird dabei am besten auf der A 20 deutlich, die sich bis an die polnische Grenze erstreckt.

Straßen, die Jens Anderson (Foto: rechte Seite, der Mann vorne) bereits kennenlernen durfte. Der Abteilungsleiter des Verbandsliga-Aufsteigers musste an den ersten absolvierten Spieltagen schon nach Anklam und Greifswald reisen. Ein kräftezerrendes Programm, wie der Boizenburger beschreibt: „Es geht schon in die Knochen, denn manchmal sitzen wir den halben Tag im Bus. Aber wir haben uns das auch ausgesucht und freuen uns darüber, dass es uns überhauptmöglich ist.“

Möglich wurde es dank regionaler Partner. Der Sponsorenpool eilte wie auch ein in der Nähe ansässiges Busunternehmen zu Hilfe, als sich die Bredouille der Auswärtskilometer nach dem Aufstieg aus der Landesliga ins Bewusstsein der sportlichen Verantwortlichen brannte. Sechs Wochen hätte man Zeit gehabt, sich nach dem Aufstieg auf die strukturellen Herausforderungen einzustellen, erzählt Anderson. Zahlen möchte der Mecklenburger im Gespräch mit BLOG-TRIFFT-BALL aber nicht nennen: „Wir haben Sponsoren, die uns bei dieser Mammutaufgabe unterstützen und vieles möglich machen.“

So geht es für die West-Mecklenburger, die im äußersten Südwesten des Bundeslandes an Niedersachsen grenzen, an fast jedem zweiten Wochenende mit dem komfortablen Gefährt auf die durchaus erfolgreichen Touren, die bisher sämtliche sieben Zähler aus Punktekonto spulten. Fans nimmt die SG dabei aber nicht im Vehikel der ersten Mannschaft mit, wie es beispielsweise der Rostocker FC mit seinen Anhängern praktiziert: „Uns ist es wichtig, dass die Jungs genügend Platz im Bus haben, damit sie frisch sind, wenn wie auswärts ankommen. Wir sind meistens 30 Mann, da ist es schon ganz schön voll“, erklärt der Offizielle in plausiblen Sätzen, direkt danach betonend, dass auch so für genug Auswärtsunterstützung gesorgt ist, da Fans häufig individuell nachreisen. Im Derby gegen Pampow, welches eine der beiden Auswärtsfahrten mit einer Teilstrecke unter 100 Kilometer ausmacht, wird jedoch dem besonderen Anlass zu Ehren ein Fan-Bus organisiert.

Dabei könnte sich für die Boizenburger, die momentan auf Tabellenplatz elf rangieren, sogar eine buchstäblich naheliegende Lösung anbieten. Die des Verbandswechsels, schließlich verspricht der Hamburger-Fußballverband mit seiner Oberliga-Hamburg ein wahres Vergnügen für den Spritsparer. Ein Gedanke, immerhin durch ein potenzielles Ersparnis von 3500 Kilometern versüßt, der den Verantwortlichen für die erste Mannschaft fast brüskiert: „Ganz ehrlich? Darüber haben wir uns noch nie Gedanken gemacht. Das spielt für uns auch keine Rolle, wir fühlen uns in unserem Landesverband wohl.“

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Aber ein Gedanke für die Zukunft? „Nein“, sagt Anderson und begründet versiert: „Es macht doch auch ein Reiz aus, diese Aufgaben zu stemmen. Und ganz nebenbei: Es ist für uns ja auch eine Entdeckungstour. Wir lernen Land und Leute kennen und bekommen viel geboten.“

Tatsächlich lesen sich die Spielorte wie ein Potpourri der schönsten Reiseorte Mecklenburg-Vorpommerns. Die Hafenpromenade Wismars, das in fünffacher Varianz angefahrene raucharmante Rostock, die Studentenperle Greifswald, das großartige Stralsund oder das klassische Schwerin – von Ossietra auf Ciabatta bis zur klassischen Sprotte in den Plastikbrötchen der beliebtesten Hafenspelunken.

Das liebste Showprogramm am Bord der Boizenburger klingt dabei aber nicht kulinarisch und hat auch mit der Bockwurst bestückten Bordküche wenig zu tun, sondern ist auf eine andere Art hausgemacht. Wie damals, nach dem 1:0 Sieg beim damaligen Tabellenführer vom RFC: „Ordentlich gesungen haben wir damals“, grinst Anderson nun, bevor er mit einer kleinen Pointe vollendet. „Schade war nur, dass die Rückfahrt mit 178 Kilometern fast ein wenig zu kurz ausfiel.“

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Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.