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Holstein Kiel: Die neue Nummer 1 an der Ostseeküste?

Der Fall des FC Hansa ist so tief wie bestens bekannt. Noch ist er spätestens seit dem letzten Wochenende um eine Facette reicher. Denn die Rostocker haben vielleicht ihren vorletzten Status verloren. Nachdem man an der Ostsee jahrelang als Nummer 1 im Osten firmierte, zwölf Jahre Bundesliga in seine Annalen eintrug, ist man nicht nur seinem Status im ehemaligen Gebiet der DDR los, sondern vorrübergehend bis langfristig auch einen anderen. Ein Report aus Kiel.

In Kiel wurde gejubelt. Das Holstein-Stadion platzte aus allen Nähten, als Frank Willenborg die Partie abpfiff. 1:0 gegen Bielefeld. Gegen den Spitzenreiter, der unter der Woche noch den Bundesligisten Hertha BSC aus dem Wettbewerb gekegelt hatte. Zehn Punkte sind es nun auf die regionale Konkurrenz aus dem Osten. Der größte Abstand im positiven Sinne für Kiel, den man jemals vor dem zuletzt zum Rivalen aufgestiegenen FC Hansa aufbauen konnte.

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Das war vor nicht wenigen Monaten noch ganz anders. Nach dem 32. Spieltag des letzten Jahres war Kiel Tabellenfünfzehnter. Mittendrin im Abstiegskampf, und neun Punkte hinter dem FC Hansa. Der auf dem siebten Platz rangierend seinen Cheftrainer Andreas Bergmann, eigentlich instruiert für eine längere Aufbauzeit, entließ und somit ein sportliches wie finanzielles Vabanque-Spiel bestritt. Und bisher spektakulär überreizte.

Kiel hingegen verlor an jenem 32. Spieltag mit 0:4 in Osnabrück. Fiel tief ins Schlamassel, die ersten medial aufgezogenen Ultimaten für Trainer Karsten Neitzel waren abgelaufen. Die damalige Doppelspitze in Kiel hielt an dem Fußballlehrer fest. Kiel rettete sich am letzten Spieltag in Darmstadt und ist nun, sieben Monate später, auch als Elfter voll im Rennen um die Aufstiegsplätze. Der Rückstand auf den ersten Aufstiegsplatz beträgt vier Punkte. Hansa hingegen, im Sommer noch mit einer geballten Transferoffensive bestechend, ist punktgleich mit dem Achtzehnten. Eine suspekte Lage.

Punkte alleine reichen aber nicht, um sich die kleine Wende im Norden vor Augen zu führen. Man muss sich die Lage abseits des Platzes anschauen, in Kiel und Rostock, direkt vor Ort.

Wolfgang Schwenke steht auf einem Kunstrasenplatz. Das Wetter ist milde wie trüb, doch gerade das norddeutsche Herbstwetter macht das Feld noch um einiges satter in seinem Grün. Während der Vereinschef über den Platz referiert, dabei Expertisen wie ein Vertriebsmann für Sportanlagen bringt, besitzt dieses Stückchen Land Symbolcharakter. 300.000 Euro kostete alleine die Oberfläche. Schwenke erklärt warum: „Das ist ein Platz der höchsten verfügbaren Güteklasse.“

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Ähnliche Plätze dieser Machart findet man als Untergrund für Königsklassen-Fußball in Moskau. Mit dem Unterschied, dass er in Kiel nicht im Stadion liegt, sondern als einfacher Trainingsplatz zur Verfügung steht. Nebst einem anderen Kunstrasen, der sich ein paar Meter weiter erstreckt. Ebenfalls beste Qualität, nur ein wenig älter. Drei Jahre alt, um genau zu sein.

Etwa sechs Millionen Euro seien in den letzten Jahren investiert worden, addiert der ehemalige Handballer zusammen, während er das nächste Areal zeigt. Es sind die Rasenplätze drei bis fünf. „Alles belegt am Nachmittag, wenn die Jugendmannschaften trainieren“, führt Schwenke fort. Ein wenig Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Insgesamt schlendert Schwenke über 4,5 Hektar Land, zeigt zwei langgezogene Kabinentrakte, eine Kunstrasenhalle mit Holzverschlag an den Wänden, einen großen Fitnessraum mit gläserner Front. Vieles ist so schick wie unverbraucht, sodass sich Übermaß und Detailliebe im gefühltem Dialog darum streiten, welcher Eindruck überwiegen soll.

Es sind Dimensionen, die man sich in Rostock kaum vorstellen mag. Vielleicht auch gar nicht kann. Denn die Strukturen in Rostock, die noch immer von neuen Spielern und Trainern mit Elogen bedacht werden, wirken im Vergleich zur Kieler Anlage, die mehr einem grünen Fußballpark gleicht, fast wie die Sportplätze eines gehobenen Dorfvereins. In Rostock ist einer der beiden Kunstrasen marodiert, an Heimspiel-Wochenenden parken die VIPs auf diesem Platz. Die Profis haben zwei feste Rasenflächen, beim Nachwuchsleistungszentrum sieht es ähnlich aus. Dazu kommt der Kunstrasen vor der Geschäftsstelle, dem man die vielen Winter deutlich ansieht. Der Klub ist finanziell malade, die Infrastruktur bröckelt seit Jahren zwar nicht ausufernd, aber langsam ersichtlich vor sich hin.

Der Klub tut einiges, kämpft gegen den langsamen Verfall an.Im Sommer halfen Fans bei kleineren Renovierungsarbeiten. Zudem sollen die Einnahmen des Kroos-Transfers in die Strukturen fließen. So sind die Rostocker im Zweit- und Drittligasegment noch immer hoch anzusiedeln, in der Bundesliga soll es noch Klubs geben, die auch auf dem passablen Rostocker Niveau oder darunter kicken. In Kiel aber sieht es nach dauerhaft höherklassigem Fußball aus.

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„Wir wissen es zu schätzen, dass wir hier sehr gute Arbeitsbedingungen besitzen“, bestätigt Trainer Karsten Neitzel die Eindrücke in der Geschäftsstelle der Kieler. Sie ist hell, die Teppiche neu, der Boden eindrucksvoll. Der gesamte Bau ist frisch, ist erst ein paar Jahre alt. Der Blick fällt ins Grün und auf die von einer externen Firma geschorenen Plätze. Vielleicht wird auch bald ein Nachwuchsinternat zu sehen sein, die Pläne existieren bereits.

Einen großen Vorteil möchte Kiel dabei aus der Region ziehen: „Wir wollen mit den anderen Sportarten der Stadt zusammenarbeiten. Handballer, Ruderer, Beachvolleyballer und Fußball zusammenbringen“, erzählt Schwenke. Was sich nützlich anhört ist es auch. Zum Beispiel wegen etwaiger Fördergelder vom Land.

Vorbei scheinen die Zeiten, als Talente der Region sich anderorts entwickelten. Zum Beispiel in Rostock, mit dem Flensburger Max Christiansen. „Interessant ist er schon, interessant sind aber auch viele andere in der attraktiven Rostocker Mannschaft“, erzählt Neitzel. Vor einen paar Jahren lockte Hansa noch Kieler wie Mo Lartey von der Förde an die Warnow, bald könnte sich der Wind gedreht haben.

Bedarf haben die Kieler Störche zurzeit eher weniger. Schließlich holten die Neitzel-Elf zuletzt 15 Punkte aus sieben ungeschlagenen Spielen, besitzen eine mit viel Akribie zusammengeschweißte Defensivabteilung, die im Ligavergleich auf Rang zwei steht. Ergänzt mit einem Ex-Rostocker im Kasten. Kenneth Kronholm hält seit Wochen brillant, kassierte in den letzten 630 Minuten zwei Gegentreffer.

Ebenso am Lauf beteiligt: Hauke Wahl, U19-Mann Finn Wirlmann und Fabian Arndt. Drei lokale Talente, die vor dem dauerhaften Sprung in die erste Elf stehen. Gerade der erstgenannte Innenverteidiger weckt Interessen von ganz oben. An der Förde besitzt er jedoch noch einen langfristigen Vertrag.

„Die Talente aus unserem gallischen Fußballdorf Schleswig-Holstein nehmen uns verstärkt als erste Adresse wahr. Das muss auch unser Anspruch sein“, erzählt Roland Reime. Der 69-Jährige ist ein lokales Schwergewicht. Elegant im Auftreten, sein Büro ist dezent aber durchaus mondän eingerichtet. An der Wand hängen zwei Storchen-Gemälde seiner Frau, eine Kunstlampe im Storchendesign auf orangenen Beinen schmückt den Schreibtisch. Der ehemalige Versicherungs-Vorstand ist Präsident der Kieler, tritt aber auf die Bremse, was dem vermeintlichen Status als neue Nummer Eins an der Küste angeht: „Wir wollen wirtschaftlich und hoffentlich auch sportlich den nächsten großen Schritt machen. Was man aber nicht vergessen darf: der FC Hansa ist durch seine Tradition ein echtes Schwergewicht. Das wird mir zu sehr außer Acht gelassen.“

Reime erzählt ruhig, eine leichte Erkältung dämpft seine Stimme kräftig ins Norddeutsche. Die Ruhe ist dabei neu, war nicht immer Bestandteil im Kieler Tagegeschäft. Nicht allzu lang ist es her, dass Reime das Ziel zweite Liga ausrief. 2012 sollte es der Fall sein, pünktlich zum Jubiläum der Meisterschaft von 1912: „Wir haben die Aufgabe damals unterschätzt. Dinge überstürzt, falsche Entscheidungen getroffen“, so Reime selbstkritisch.

Es war in der Tat eine wilde Zeit. Als Regionalliga-Erster feuerte man damals Peter Vollmann und ersetzte ihn durch Falko Götz. „Die Chance bot sich einfach an“ erzählt der Pensionär, der die Entlassung mit Defiziten in der Talente-Entwicklung und die Verlockung der Option Falko Götz begründet. Seit dem Drittliga-Abstieg 2009 halten sich Reime und seine einstigen Mitstreiter weitestgehend aus dem operativen Geschäft heraus, überlassen Wolfgang Schwenke und das gleichberechtigte sportliche Pendant die Zügel. Seitdem der größte wie einzige Kritikfaktor: es geht einigen Außenstehenden in der Relation zu den Millioneninvestments zu langsam. Strategie sei das, erläutert Schwenke: „Wir investieren nicht in Beine, sondern in Strukturen. Wir wollen vorbereitet sein, wenn es soweit sein sollte.“

Die zweite Liga ist deshalb weiterhin das unbedingte Kieler Ziel. Vor allem aber auch eine Notwendigkeit, um sich den Zuspruch in der Region zu sichern: „Wir müssen höherklassigen Fußball anbieten, um das gesamte Fanpotenzial abzurufen“, erklärt der Kieler Präsident Reime, wohlwissend, dass die Fußball-Landkarte Schleswig-Holsteins unterklassig gut bestellt ist. Flensburg, Lübeck und Neumünster haben auch ihre Anhänger. Die meisten Schleswig-Holsteiner gehen aber zum HSV und St. Pauli, wie es aus der Landeshauptstadt klar zu vernehmen ist. Das soll sich zweitklassig ändern, so die in breiter Konsequenz vorgetragene Meinung in der Schaltzentrale in Kiel-Projensdorf.

Mit Recht, wie die Zuschauerstatistiken offenbaren. Gut 5300 Fußballfans kamen bisher zu den Spielen ins Holstein-Stadion, ein ligaüblicher Wert, der das Kieler Publikum in der Zuschauertabelle aktuell auf Rang elf einlaufen lässt. Im Frühjahr 2013, als die Gegner noch Rehden und Goslar hießen, lag der Ticketsschnitt bei 3500.

In Rostock sind es trotz desolater Lage noch weit über 8000 Fans (in Dresden sind es übrigens 23.000). Tatenlos sind die Schleswig-Holsteiner nicht, die Vorstellungen über ein neues Stadion sind weit fortgeschrittenen, übereilen möchte aber niemand.

Um die Zuschauer ins alte Holstein-Rund zu locken, greifen die Verantwortlichen zu kreativen Methoden. Mit der Eintrittskarte kann man in ganz Schleswig-Holstein über die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos zum Spiel an- und abreisen. Selbst von Hamburg kommt man mit der Eintrittskarte über die Zugverbindung ohne Zusatzkosten in die alte Arena.

So strömten gegen Bielefeld am vergangenen Wochenende 7644 Besucher zusammen. Und feierten. In Rostock waren 9200 dabei. Und jubelten zur Abwechslung ebenfalls, über zwei Tore in der Nachspielzeit im Komfortstil einer Bundesligaarena. Vor allem aber über den einen errungenen Punkt gegen Osnabrück

Die Zuschauer sind der Trumpf, den der Kieler noch nicht in den eigenen Händen weiß. „Das ist nicht schlimm, wir sehen ja die Hintergründe“, sagt Geschäftsführer Schwenke zum Fanvergleich, bevor er die Steigerungen im Zuschauerschnitt ins Feld führt. „Wir haben noch alle Zeit“ ergänzt er, sich ein letztes Mal über die Weiten des Kieler Trainings-Domizils verlierend. Zeit hat er sich persönlich genommen. Ein Angebot vom THW Kiel lehnte er im letzten Winter ab.

Ein Jahr später geht’s für Schwenke also wieder nach Rostock. Im Winter. Kurz vor Weihnachten, am Samstag vor dem vierten Advent. Vielleicht wird es die vorerst letzte Begegnung der beiden großen Ostsee-Mannschaften.

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Der Rostocker Weihnachtsmarkt, so hört man in Norddeutschland oft, sei der vielleicht schönste im Norden. Wer weiß, wie oft sich diese Chance in der unmittelbaren Zukunft noch bietet. //

 

DER BTB-RUNDGANG IN 20 BILDERN

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Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.