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Lienen und der FC St. Pauli – darum passt das!

Ewald Lienen heißt der neue Trainer beim FC St. Pauli. Diese Meldung zog am Dienstagvormittag als heftiger „Paukenschlag“ durch’s Fußballland. Immerhin war der 61-Jährige seit Jahren von der Bundesligabühne verschwunden. Warum der zuletzt viel im Ausland eingesetzte Coach trotzdem wie angegossen auf den zuletzt überhitzten Pauli-Topf passt – Hannes Hilbrecht, der Lienen vor wenigen Monaten interviewte, erklärt es in seinem Kommentar.

Foto: Witters

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Fast drei Stunden dauerte damals die Interviewautorisierung. Ich habe heute noch einmal nachgesehen, wie lange Ewald Lienen und Ich wirklich telefonierten. 2 Stunden und 57 Minuten. Lienen sezierte damals das fünfseitige Interview Satz für Satz. Möchte man ihn unter Gebrauch einer negativen Konnotation beschreiben, dann erlaubt sich das Wort pedantisch. Das Adjektiv penibel ist in seinem Fall wahrscheinlich besser gewählt.

Penibel soll Ewald Lienen auch sein, wenn es um seine Aufgabe als Trainer geht. In Rostock, bald sechzehn Jahre ist seine Entlassung her, ist Lienen noch immer unter dem Spitznamen „Zettel-Ewald“ bekannt. Fast jede Spielszene notierte sich Lienen damals auf seinen Notizblock, mit einer Schrift, die wohl nur er selbst lesen konnte. Ehemalige Spieler beschreiben seine Trainingseinheiten als akribisch. Noch weit bevor dieses Wort in den standardisierten Wortschatz der aktuellen Generation „Fußballprofi“ aufgenommen wurde.

In Rostock führte Lienen die wohl fußballerisch beste Hansa-Bundesligamannschaft aller Zeiten an. Er holte Spieler wie Oliver Neuville und formte aus einem bunten Kollektiv ein Team, das nur knapp das internationale Geschäft verpasste. In ganz Deutschland sprach man damals über den Rostocker Fußball und den tobenden Trainer an der Seitenlinie. Fragt man in der Hansestadt heutzutage Zeitzeugen, werden sie kaum ein schlechtes Wort über den Trainer verlieren, der auch mit schnippischen TV-Auftritten von sich Reden machte.

Lienen, dessen zweiter Karrierehöhepunkt in Köln mit dem Aufstieg in die Bundesliga seine Krönung fand, ist in den Jahren danach etwas abgetaucht. Mit Mönchengladbach und Hannover 96  funktionierte es eher schlecht als recht, genauso wie mit 1860 München in der 2. Bundesliga. Seine Auslandaufenthalte waren ebenso wenig von Siegesglück und Fortune gekennzeichnet. Mit Bielefeld stieg er sogar in die dritte Liga ab.

Durchaus könnte man unken und behaupten, Ewald Lienens beste Zeit wäre vorbei, seine einstigen Erfolge und Triumphe mittlerweile antiquiert und verblasst. Er könnte zweifellos einer der Trainer des alten Semesters sein, welches in den letzten Jahren verstärkt von jungen Kerlen wie Zinnbauer, Weinzierl oder Tuchel abgelöst wurde oder durch Fachkräfte aus dem Ausland ihre verstärkte Demission erfuhr.

Daraus allerdings jegliche Chance des Projektes-Lienens zu versagen, wäre töricht und verfrüht.

Beispiele wie Thomas Schaaf oder Jupp Heynkes (unter ihm arbeitete Lienen in Spanien), die nach Karrierekrisen und Enttäuschungen eindrucksvoll zurückkamen, sind nur die Spitze des Eisbergs an Fußballlehrern, denen ein eindrucksvolles Trainer-Comeback gelang.

Vorausgesetzt sind dafür viele Faktoren. Die beiden wichtigsten Punkte bringt Lienen dabei schon einmal ganz sicher mit in die Elb-Metropole.

Lienen galt in den 90ern früh als Fußball-Intellektueller, als Trainer, der mit neuen Methoden und frischem Wind die Liga aufrüttelte. Nach dem Erfolgsjahr in Rostock war der gebürtige Mönchengladbacher ein Shooting-Star, Top-Klubs boten um seine Dienste. Er blieb in Rostock, weil er sich der Aufgabe verbunden fühlte. Statt Europa und einer satten Gehaltserhöhung gab es damals Abstiegskampf und die spätere Entlassung, weil Lienens Mannschaft im Sommer zu Teilen auseinandergekauft wurde und die Aufgabe aus seinen Händen glitt. Natürlich, so ist sich Lienen noch heute sicher, wäre auch ihm der spätere Klassenerhalt gelungen.

Was Lienen jedoch immer auszeichnete, war sein Kopf für neue  Ideen. Ein Trainer, der offen für Weiterentwicklungen ist, der sich nicht wie andere überrennen ließ von der anziehenden Beschleunigung des Fußballs.

Noch weitaus wichtiger als die Bereitschaft für Neues ist aber ein anderer Faktor. Lienen und St. Pauli – das passt im Rahmen auf den ersten Blick unvorstellbar gut.

Der ehemals „linkeste“ Klub Deutschlands bekommt einen der „linkesten“ Trainer Deutschlands. Jemand, der wie im damaligen Interview mit anhebender Stimme gegen den Rechtsextremismus anspricht, dabei fast in Rage gerät. Der „soziales Verhalten“ von sich und anderen einfordert. Der über Themen spricht und sprechen will, die eigentlich nicht in die Business-Welt „Fußball“ gehören. Der bei den „11-Freunden“ schon einmal gegen die Dämonisierung von Ultras warb. Lienen und der ganz spezielle Hamburger Stadtteil – das passt von der Mentalität her besser als jede andere vorstellbare Konstellation.

Es wäre unfair, würde man es nur dabei belassen. Denn Lienen könnte bei strikter Beachtung des Konjunktives auch bestens zur sportlichen Situation passen. In Abstiegssituationen ist er erprobt, sein Umgang mit Spielern wird von manchen als „streng aber herzlich“ beschrieben. Durch Erfahrung und seine bestimmte, fein artikulierende Art bringt er die derzeit wichtigsten Kriterien mit in den Verein. Ruhe und Contenance.

Die Personalie scheint zu passen, sie ist fachlich wenig umstritten. Und wie wichtig die Kompatibilität zwischen Trainer, Mannschaft und Verein ist, lässt sich an vielen aktuellen Beispielen ermessen.

Es ist nicht lange her, da beschwerte sich ein italienischer Restaurantbetreiber, der seit langen Jahren den Verein begleitet, mit klaren Worten über den Umstand, dass der FC St. Pauli nicht mehr der FC St. Pauli wäre. Bei Ewald Lienen könnte man nun sagen: Viel mehr St. Pauli kann man auf einer Trainerbank gar nicht komprimieren

Es ist ein Trend, der sich beim Kiezklub fortzusetzen scheint. Was mit dem neuen Präsidenten Oke Göttlich (früher als Sportreporter bei der TAZ angestellt) begann, setzt sich nun in der Trainerpersonalie fort.

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Als Ewald Lienen und Ich mit der Interview-Autorisierung durch waren, wir genug über das Für und Wider von Wörtern  wie „ärgerlich“ oder „wütend“ diskutiert hatten, legte der 61-Jährige einfach auf. Ich bekam Angst, dass ich ihn möglicherweise vergrault hatte. Einen sonnigen Nachmittag für ein kleines Portal aus dem Norden aufzuwenden, dass lag bestimmt nicht in der Tagesplanung des Trainers. Vielleicht hatte es ihm wirklich wütend gemacht. Es ging schließlich um BLOG-TRIFFT-BALL, und nicht um TAZ oder Süddeutsche.

Dann rief er zurück und erklärte ausführlich. Er hätte sein Telefon in die Ladestation stecken müssen, nicht daran gedacht, dass dadurch das Gespräch beendet werden würde. Wir sprachen noch ein wenig über dies und das, er interessierte sich sehr für die Seite. Er wolle nach seinem Karriereende auch schreiben, vielleicht ein Buch über seine Erlebnisse im Kosmos Fußball, sagte er am Ende der zweiten Unterhaltung.

Dieses Projekt muss wohl vorerst warten.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.