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Das Projekt Aufstieg lebt in Kiel

Holstein Kiel gewinnt das Spiel in Cottbus mit 2:0 und ist nun mittendrin im Rennen um die Aufstiegsplätze. Vom Abstiegskandidaten zum Aufstiegsanwärter – in Kiel ist in den letzten acht Monaten einiges passiert. Dabei war bis vor Weihnachten noch nicht jedem klar, wohin der Weg in den nächsten Monaten führen würde.

Foto: calcio-culinaria.de

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Gut sechs Wochen ist es her, da saß Karsten Neitzel nachdenklich in einem → braunlederigen Egg Chair in der Lobby des Rostocker Radison Hotels. Er versank in seiner rotschwarzen Trainingskluft im bequemen Sessel, ein wenig verstohlen nippte er am Weißwein, den er sich in kleinen Schüben aus einer gläsernen Karaffe nachfüllte.

Es war der Vorabend des Hinrunden-Abschlusses gegen den FC Hansa Rostock. Die KSV Holstein hatte in der Woche zuvor eine empfindliche 0:2-Niederlage gegen den Abstiegskandidaten aus Dortmund erlitten, gewissermaßen stand vor dem Nordderby gegen den Ex-Bundesligisten das gute Gefühl eines im Grunde ordentlichen Kieler Fußballjahres auf dem Spiel. Neitzel sprach es nicht aus, aber man sah es ihm an: Ganz sicher war er sich seiner Sache zu diesem Zeitpunkt nicht. „Rostock wird, egal was alle schreiben, eine harte Nummer“, so der gebürtige Dresdner am besagten vorweihnachtlichen Freitagabend, vermeintlich nur auf das Spiel fokussiert.

Es schien jedoch nicht nur das Nordderby zu sein, über das im Kopf des Fußballlehrers gegrübelt wurde. Kurz zuvor hatte → Kiel mit Ralf Heskamp den neuen Sportlichen Leiter der KSV vorgestellt. Ein smarter, berufserfahrener Mann, der zuletzt im Umkreis des FC Bayern München arbeitete, und dort auch geblieben wäre, wenn er nach den eigentlichen Wünschen der Bayern seine Entscheidung getroffen hätte.

Heskamp, der integrer in seinen Vorstellungen beschrieben wird und nicht dem klassischen Bild eines reinen Verwalters entspricht, war für Neitzel eine Unbekannte. Man kannte sich nicht, der erste Eindruck nach dem schnellen Abschnuppern war zwar gut, als wie kompatibel sich das Gespann für die tägliche Arbeit tatsächlich erweisen würde, war im Dezember 2014 aber noch völlig unklar.

Warum Neitzel, der gerne impulsiv daherkommt und immer um einen klaren Ausdruck bemüht ist, an diesem Abend so nachdenklich wirkte, kann mit dieser neuen Arbeitssituation begründet werden.  Vielleicht gäbe es in den Vorstellungen des neuen Sportchefs ganz einfach einen Trainer, den man die Aufgabe in Kiel besser zutrauen würde. Im Fußball hat es schließlich schon alles gegeben, auch nicht verlängerte Verträge nach erreichter Ablaufzeit.

Das Spiel in Rostock war also mehr als ein Punktspiel für den 47-Jährigen. Das spürte man an diesem Abend. Es ging auch um eine Orientierungsmarke für den neuen Chef.

Kiel, so weiß jeder Fußballinteressierte an der Ostseeküste, fuhr an diesem arg verregneten Samstagnachmittag den größten Triumph seit der Drittligarückkehr ein. Mit 4:0 wurde Hansa Rostock besiegt. Ein Ergebnis, das in Anbetracht des Spielverlaufs etwas zu hoch ausfiel, aber dennoch einem hochverdienten Erfolg entsprach. Den Lokalrivalen gedemütigt, dazu die Punkteausbeute auf 33 Zähler gesteigert.

Als Neitzel kurz vor Weihnachten ans Telefon ging, blieb er dennoch trotzig. „Mit 33 Punkten ist man im letzten Jahr abgestiegen“, sagte er darum bemüht, den Sieg über ein kärgliches Rostock nicht über zu bewerten. „Die Zielstellung bleibt, wir wollen mehr Punkte als im letzten Jahr holen.“

Zu den 33 Punkten der Hinrunde haben sich nach zwei Spielen vier weitere angesammelt. Der 2:0-Sieg in Cottbus, einem direkten Tabellennachbarn, der lange direkt um den Aufstieg mitspielte und als favorisiert galt, bedeutete die Zähler 35 bis 37. Am Klassenerhalt zweifelt folglich niemand mehr und nur noch drei Siege fehlen, um wie im vergangenem Sommer geplant, die Bilanz der vergangen Spielzeit zu übertreffen.

Bereits vor den ersten Punkten der Rückrunde war der Neitzel-Vertrag überraschend schnell verlängert worden. „Ganz unproblematisch, groß verhandelt haben wir nicht“, wie er kurze Zeit später ausrichten ließ. Im sozialen Netzwerk der Schleswig-Holsteiner wurde über diese Information gejubelt, in vielen Kommentaren wurden Sympathien und Glückwünsche in Richtung Cheftrainer geäußert. Jenem Neitzel, der sich in der sportlichen Existenzkrise des letzten Jahres mit teils harter Kritik konfrontiert sah, und dessen Verbleib in der schweren Krise von bösen Zungen mit einer angeblichen Männerfreundschaft zum Heskamp-Vorgänger Andreas Bornemann begründet wurde.

Der Sachse freut sich jedenfalls sichtlich über die steigende Anerkennung aus dem Fanlager: „Ich bin doch auch nur ein Mensch, der sich wie jeder andere darüber freut, wenn man Wertschätzung erfährt.“

Während die Zukunft des Cheftrainers für die kommenden zwei Jahre gesichert ist, schaut auch die Kieler Perspektive rosiger denn je aus. Die Ausgangsposition für den Saisonendspurt könnte nicht besser aussehen. Der Klassenerhalt, das primäre Ziel, ist so gut wie erreicht, wahrscheinlich fehlen nur zwei Siege zur letztlich notwendigen Punkteausbeute.

Stattdessen kann man in Kiel mit aller Ruhe und Contenance nach oben schauen. Die beste Defensive der Liga ist über den Wintern nicht eingerostet und wenn sie doch überwunden wird, steht mit Kenneth Kronholm der mit hoher Wahrscheinlichkeit beste Torhüter der Liga im Holstein-Gehäuse.

Ein Fundament, auf dem man aufbauen kann. Vor allem aber eine Grundlage, die bei anderen Spielen Interesse weckt. Zudem sind Trainingsbedingungen auf dem vereinseigenen Fußballcampus  überdurchschnittlich, Fan- und Medienumfeld versprechen im Vergleich zu anderen ambitionierten Mannschaften der Spielklasse eine iziemlich idyllische Atmosphäre.

Karsten Neitzel ist sich der komfortablen Ausgangslage jedenfalls bewusst, wie er mit forcierender Stimme ausdrückt: „Wir sind mit Sicherheit ein attraktiver Arbeitgeber für attraktive Spieler. Mit diesem Selbstvertrauen müssen wir aber auch ans Werk gehen.“

Zusätzlich zu diesen Rahmenbedingungen gesellt sich ein weiter Luxus. Anders als im Vorjahr, als bis zum letzten Spieltag in Darmstadt unklar war, in welcher Liga Kiel in der Folgesaison auflaufen würde, kann der Verein bereits jetzt an Wunschspieler herantreten, nach und nach am Kader basteln, erste Kontakte knüpfen und vermeiden, dass im Frühjahr die Wunschspieler bereits anderorts über den Ladentisch gegangen sind. Das Projekt zweite Liga lebt in Kiel – spätestens mit dem kommenden Sommer.

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So gleicht der Endspurt um die Plätze an der Tabellenspitze einer Zusatzoption. Der Aufstieg ist nicht das ausgebebene Ziel, welches vor Saisonbeginn angepeilt wurde. Die Teilnahme am Aufstiegsrennen ist sozusagen ein Zusatz, das Sammeln von Erfahrungen für die kommenden Jahre und ganz nebenbei ein Schaufenster für die Präsentation der Kieler Mannschaft, um potenzielle Neuzugänge bereits einen positiven Vorgeschmack zu liefern.

Ob Karsten Neitzel jetzt über den Aufstieg reden möchte?  Er gibt sich schlagfertig: „Vom bloßen Verwenden des Aufstieg-Begriffes bekommen wir auch nicht mehr Punkte. Wir werden aber bestimmt nicht absichtlich verlieren und wollen, so lange es geht, oben mitmischen.“

Im Vergleich zum Vorjahr dürfen sich die Schleswig-Holsteiner  und ihr Trainer bereits jetzt als kleine Aufsteiger fühlen. Ob daraus noch große werden, entscheiden die nächsten Wochen und Monate.

Hannes Hilbrecht

Hannes Hilbrecht schreibt und schrieb nebenbei für ZEIT ONLINE, NDR.de und den Berliner Tagesspiegel. Füllt ein Marketing-Magazin mit Liebe (GrowSmarter.de) Und er liest eine spannende Case Story genauso gerne wie den neuen Roman von Ralf Rothmann.