Der Dienstag, als Meckpomm zurückschlug
Holstein Kiels Märchen vom Aufstieg wird kurz vor dem Abspann zum jähen Alptraum. Ausgerechnet zwei Ex-Hanseaten, mit Verbindung zum Verein, den Holstein Kiel in der abgelaufenen Spielzeit am meisten gedemütigt hatte, üben bittere Revanche. Dennoch: Ganz Kiel kann stolz sein und optimistisch nach vorne schauen.
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Es gab diesen ganz kurzen Moment, als sich ein mit Kiel sympathisierender Betrachter in einer Rostocker Kneipe vorahnend über seinem wartenden Bier schüttelte. Gerade hatte der Offizielle an der Seitenlinie die Nachspielzeit angezeigt. Vier Minuten. Wie am Vorabend in Karlsruhe. Wenige Augenblicke nach dieser Anzeige schlug der vermeintlich unterlegene wie abgestiegene HSV jäh zurück. Erzwang die Verlängerung, kam dort ein paar Minuten später zur glücklichen Entscheidung. Die Vorahnung hatte also ihren berechtigten Ursprung.
In München schrieb der Favorit, in diesem Fall der TSV 1860 München, ein ähnliches Kapitel Fußballgeschichte. Ein satter Schuss aus dem Rückraum klatschte zunächst an den Pfosten, dann direkt vor die Füße von Verteidiger Kai Bülow, der längst seine angestammte Rolle gegen die Aufgabe eines Stürmers eingetauscht hatte. Er brauchte nur noch abzustauben. Kieler Blicke flüchteten verzweifelt an die Außenlinie, nur die Abseitsfahne des Linienrichters versprühte in diesem Moment Hoffnung. Sie blieb richtigerweise unten. Vergangen waren seit der Bekanntgabe der Nachspielzeit vielleicht dreißig, vielleicht auch nur zwanzig Sekunden.
Dass ausgerechnet Bülow traf, passte besonders in die makabre Story dieses Dienstagsabends. Bülow spielte lange schwach, beim 0:1 durch Kazior kam er zu spät. Anschließend fabrizierte der Routinier einige Fehlpässe, die selbst den mit der Neutralität ringenden Kommentator des Bayrischen Rundfunks aus der Fassung brachten. Auf Facebook, dem Tummelplatz von manch zynischen Fan-Gestalten, forderten Anhänger Bülow zum sofortigen Verlassen des Platzes, wenn nicht gar der Arena oder gleich der ganzen Stadt auf. Lynchjustiz im Fußballduktus. Fürsprecher hatte Bülow bis zur Schlussminute kaum gewonnen.
Der Fall Bülow reicht aber noch viel weiter. Lange Zeit schien das ehemalige Spieler-Fabrikat aus der Talenteschmiede von Hansa Rostock bei den Löwen gänzlich abgemeldet. Erst mit der Berufung Torsten Fröhlings, einem anderen Mecklenburger, der bis dato die U21 der Löwen trainierte, begann der Stern des zwischenzeitlich ausrangierten Ex-Kapitäns wieder zu leuchten. Beide fanden auch aus norddeutscher Verbundenheit schnell einen Draht, Fröhling vermittelte Bülow neues Selbstvertrauen. Und hielt an ihm fest, als dieser im Relegations-Rückspiel lange schluderte.
Dass es gewissermaßen eine mecklenburgische Kombo bestehend aus dem an der Seitenlinie hüpfenden Fröhling und seinem Schützling war, rundete den bitteren Moment aus Holstein-Sicht weiter ab. Den vielleicht größten Sieg in der letzten Saison hatte Kiel nämlich in Rostock errungen. Die Schleswig-Holsteiner gewannen im Dezember, kurz vor Weihnachten mit 4:0, gingen mit maximalem Selbstvertrauen in die Rückrunde. Man irrt gewiss nicht, wenn die damalige Hansa-Demontage als finaler Startschuss für die Kieler Traumrückrunde gewertet wird. In letzter Instanz schlug nun der Rivale von der Ostsee, wenn auch über mehrere Ecken, in bitterster Manier zurück.
Was blieb, war ein Tal der Tränen. Fassungslos, ja gelähmt versprangen rote Trikots wie Wassertropfen auf dem großen grünen Geläuf. Karsten Neitzels Augen waren im ersten TV-Interview sichtbar wässerig, er gab sich emotional. Ja fast angegriffen.
Dabei bot der Trainer an diesem Abend wie schon in der kompletten Spielzeit wenig bis keine Angriffsfläche. Der überraschend in die Startelf bugsierte Lindner sorgte fünfzig Minuten lang für feine Kabinettstückchen und die Vorlage zum vermeintlich siegbringenden 1:0, während der eingewechselte Heider nach der Halbzeit den erhofften neuen Offensivschwung initiierte. 78 Minuten lang errang Neitzel einen klaren Sieg im Trainerduell, eine Mannschaft spielte gegen ein Team, das größte Mühe hatte, sich nicht selbst vorzeitig aufzugeben. Wie verzweifelt die Löwen anrannten, erkannte man an den vielen teils tumben Versuchen, sich einen Elfmeter zu ergaunern. Der gute Schiedsrichter Kircher fiel nicht darauf ein, doch entstand der Anschluss der Löwen durch Adlung aus einer dieser Situationen, als Hellblau einen Pfiff erhoffte und Rot zum ersten Mal im Strafraum schlief.
Der Rest war keine fünfzehn Minuten später nur noch Bülow.
So blieb vor allem das Interview der beiden Trainer in Erinnerung. Das Bild zweier erfahrener Recken gab von weitem noch nicht einmal genau darüber Aufschluss, wer der Geschlagene und wer der Sieger war. So sehr kämpften beide Protagonisten mit den Gefühlen, sie verkörperten die Torturen des Dramas in Perfektion. Neitzel fasste aber noch während des Interviews Mut, sagte: „Bis zum morgigen Abend werde ich traurig sein. Dann blicke ich wieder voraus.“
Pendant Fröhling, der seine Mission letztendlich meisterte und seine erste Aufgabe im Profibereich bestand, gab sich fair. Nicht überdreht, sondern den Moment wohlwissend einordnend. Ein Gewinner mit viel Niveau, wie sich auch schon in den Schlusstakten der Partie zeigte, als Löwen-Ersatzkeeper Ortega einen Ball unfair auf die Tribüne drosch, um Zeit zu schinden. Fröhling, das schien sein Gesicht während der TV-Übertragung zu verraten, gefiel dieser unsportliche Akt nicht. Es war nicht seine Art zu gewinnen.
Während Fröhling, der ironischerweise Kiel einmal ebenfalls interimsweise trainierte, nun darauf hoffen darf, sich mit dem manierlichen Schlussspurt trotz prekärer Arbeitsbedingungen eine Chance auf die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses verdient zu haben, gewannen die Kieler zumindest viele Sympathien. Was auch Neitzel, längst wieder im positiven Trotz aufwartend, dem fragenstellenden Moderator erläuterte. Wie sehr die Kieler für sich geworben hatten, erkannte man auch an den kleinen Dingen.
So schrieb sogar ein Fan vom Erzrivalen aus Lübeck dem Autor dieses Textes ob der Dramatik angefasst: „Ich hatte es ihnen echt gegönnt, es ist echt bitter. Als Fußballfan tut mir das furchtbar Leid.“
In Kiel wird man diesen Trost vermutlich erst in einigen Wochen begreifen. Worte, wie die von Präsident Roland Reime (70), der im November sagte, er wolle den Aufstieg seiner Störche auf jeden Fall noch erleben, wiegen diesen Abend noch etwas schwerer als er ohnehin schon ist. Aber die Zeichen, darauf, dass Präsident Reime nicht mehr allzu lange warten muss, stehen gut.
Die Kieler werden auf dem Transfermarkt für mächtig Aufmerksamkeit sorgen und den Kader weiter verstärken, so viel drang bereits jetzt durch. Mit Karsten Neitzel und Manager Wolfgang Schwenke sind die Väter des Erfolges noch lange nicht satt, sondern allenfalls noch hungriger geworden. Und vielleicht hat diese negative Heldensaga von München das bisher wenig fußballaffine Bundesland Schleswig-Holstein mehr zusammengeschweißt, als es ein Aufstieg je hätte tun können.
Mit höchstem Respekt – die BTB-Redaktion.