Wir könnten den Videobeweis verdammt gern haben
Es waren ja nur Zentimeter. Spieler, Funktionäre, Fußballfans und Experten kritisieren mal wieder den Videobeweis. Hätten die Verantwortlichen richtig abgeguckt, hätten wir den Videobeweis viel lieber.
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Das Beste am Videobeweis ist: Er wird womöglich das schaffen, was Greuther Fürth und dem Karlsruher Sportclub verwehrt blieb: Dem Hamburger SV den lange verdienten (die letzten, durchaus beeindruckenden Wochen mal ausgeklammert) kosmischen Einschlag eines Abstiegs zuführen.
In den vergangenen Jahren gab es einige komische Pfiffe, die den HSV zumindest etwas bis stark begünstigten. In diesem Jahr gab es diese Schiedsrichterentscheidungen auch. Das gravierende Abseitstor von Kostic gegen Mainz 05 oder eben das Tor von Ito gegen Eintracht Frankfurt. Treffer, die den Abstiegskampf womöglich verändert hätten, wenn sie gegeben worden wären.
Dieses Jahr wurden sie durch den Videobeweis zurückgepfiffen. Zurecht. Das ist fair für die Konkurrenz, gut für die Liga – nur eben blöd gelaufen für den HSV.
Bestmögliche Nutzung des Videobeweises
Die angesprochenen Szenen zeigen sogar die bestmögliche Nutzung des Videobeweises. Die, in der ein Linienrichter – wenn auch ungewollt – eine enge Situation ausspielen lässt. Itos Abseitsposition war hauchzart, im Zentimeterbereich. Mit dem menschlichen Auge kaum wahrzunehmen. Hätte er, der Schiedsrichter-Assistent, auf Verdacht die Fahne gehoben, und es wäre kein Abseits gewesen – das Geschrei wäre zurecht groß gewesen.
Szenen wie die von Ito in Frankfurt verdeutlichen, was für ein Mehrwert der Videoschiedsrichter Bundesliga bringen könnte: Zum Beispiel mehr Tore, weil die Schiedsrichter weniger klare Torchancen wegen einer fälschlichen Abseitsstellung zurückpfeifen.
Nun hört man in der Diskussion um das Ito-Tor spannende Zwischentöne. Es waren ja nur Zentimeter. Der Videoschiedsrichter soll nur eingreifen, wenn er einen deutlichen Fehler mit seiner Tatsachenentscheidung begangen hat, sagen Experten. Das ist ein nachvollziehbarer Diskussionsansatz – aber ein grundsätzlich falscher. Jeder Fußballfan weiß, wie schwierig unklare Grenzen für Schiedsrichter sind. Man denke nur an Handspiele im Strafraum. Vor allem: Abseits ist Abseits. Und es wird mit schrumpfenden Abständen auch nicht weniger Abseits.
Eine halbgare Geburt
Das Problem ist: Der Videobeweis war nur eine halbgare Geburt. Er steht auf einem Boden, der so schwammig ist wie die Marschlandschaften in Norddeutschland. Das Prozedere Videobeweis wurde noch nicht standardisiert, es scheint keine klaren Regeln zu geben. Wieder alles Ermessenssache und so.
Ein Blick in den US-Sport zeigt, wie es anders und vor allem besser es geht, wenn die Funktionäre es nur wollen. Im American Football beispielsweise, wo viele Pausen den Videobeweis begünstigen, wird jedes Scoring-Play automisch von einem Videoteam überprüft. Das haben die Fans verinnerlicht. Sie wissen auch im größten Jubel, dass bei engen Entscheidungen noch das böse Erwachen folgen könnte. Ein Spannungsmoment, dramaturgisch kaum zu übertreffen. Tod oder Gladiolen, würde ein niederländischer Trainer sagen.
In der Bundesliga passiert Ähnliches – die Kommunikation ist aber eine andere. In Deutschland ist es ein Einmischen der Videoassistenten und kein normaler Prozess. Würde der Wiederanstoß erst nach Studium des Videomaterials ausgeführt werden, wäre das für die Schiedsrichter ein Drucklöser. Bei Entscheidungen, die eng sind, könnte sogar die Uhr angehalten werden. Das wäre praktisch und klug.
Katastrophal wird der Videobeweis nur, wenn er tatsächlich Ungerechtigkeit fördert. Das beste Beispiel: Köln gegen Hannover, ein dramatisches Fußballspiel zu Beginn der Rückrunde. Köln wurden zunächst zwei hochkarätige Tormöglichkeiten fälschlicherweise wegen Abseits genommen. Das reguläre Siegtor, spät in der Verlängerung, zurecht abgepfiffen.
Pfeift der Schiedsrichter in den ersten beiden Szenen nicht ab, sondern lässt sie laufen, hätte er im Falle eines Tores noch den doppelten Boden des Videoassistenten gehabt.
Der Videobeweis als Werkzeug für die Unparteiischen
Das Problem: Die Schiedsrichter stehen unter immensen Druck. Sie müssen im ersten Moment richtig entscheiden, das Risiko eingehen. Auch wenn der Videoassistent die „Fehlentscheidung“ korrigiert, bleibt die Kritik am Schiedsrichter haften. Diese Stresssituation fördert eher noch den Druck, intuitiv zu entscheiden – und nicht im Zweifel die Pfeife schweigen zu lassen.
Der Videobeweis sollte in erster Instanz vom Schiedsrichter ausgehen. Ein Tool, ein Werkzeug sein, so wie es auch die Gelbe Karte ist oder das Freistoßspray. Ist sich der Schiedsrichter nicht sicher, hat er etwas nicht ganz genau gesehen, kann er sich dieser Lupe bedienen. Zum Beispiel bei harten Fouls, Tätlichkeiten, kniffligen Elfmetern. Franck Ribery würde womöglich mal eine Unsportlichkeit geahndet bekommen.
Das Stichwort ist wie so oft im Leben: Kommunikation. Nicht nur von den Verbänden und Ligen zu den Schiedsrichtern. Sondern auch zwischen Spielleitung und Zuschauer.
Im US-Sport gibt drei Vokabeln, die unwahrscheinlich helfen: „stands“, „confirmed“ und „changed“. Wichtig sind vor allem die ersten beiden Begriffe. Stands bedeutet: Die Entscheidung auf dem Platz bleibt bestehen, weil die Situation nicht eindeutig genug ist, um eine Tatsachenentscheidung zu annullieren. Confirmed, hingegen, ist die Bestätigung einer Tatsachenentscheidung. So wie der Schiedsrichter es live gesehen hat, war es auch eindeutig richtig.
Zu Kommunikation gehört auch, dass der Schiedsrichter seine Entscheidungen erläutert und überhaupt erläutern kann.
Mehr Transparenz für die Fans
Im Football und einigen anderen internationalen Sport-Ligen sind die Unparteiischen per Mikro mit den Stadionlautsprechern verbunden. Sie erläutern dem Stadionpublikum und den Fans an den Bildschirmen, warum der Videobeweis angefordert wurde. Danach erklären sie ihre Entscheidung, sagen, wer Foul gespielt hat und wer im Abseits stand. Das macht ihr Handeln transparenter. Vor allem aber wissen die Fans viel eher, woran sie gerade sind. Was geschieht. Als ob es nicht schon schwammig genug wäre, nicht zu wissen, ob der eigene Jubelschrei vielleicht voreilig war.
Am Ende scheitert es da, wo es im Fußball zurzeit meistens scheitert: In den Verbänden und Organisationen.
Das Problem: Die Fußballverbände müssten sich langsam entscheiden. Will man den Videobeweis anwenden, muss das kategorisch und ohne „Aber“ geschehen. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, die unpopulär sind. Zum Beispiel, bei Hinzunahme des Videobeweises die Spieluhr anzuhalten.
Auch müssen die Zuschauer einbezogen werden, besonders diejenigen in den Stadien, die keine „kompetenten“ Kommentatoren im Ohr haben, die schildern, was auf dem Rasen passiert. Das könnte von Unparteiischen neue Qualitäten erfordern; manchen von ihnen liegen, anderen weniger behagen. Definitv könnte es die Kluft zwischen Schiedsrichter und Stadionpublikum schließen – Entscheidungen eine neue Autorität geben.
Der Videobeweis muss nicht sein – Fußball war auch schon davor die großartigste Nebensache der Welt. Ein klar regulierter Videobeweis (nur bestimmte Szenen dürfen angeschaut werden, also nicht jedes Foul; automatische Tor-Überprüfung; Kommunikation zwischen Schiedsrichter und Publikum) würde jedoch die Spielausgänge fairer machen und vielleicht auch den Graben zwischen großen und kleinen Teams der Bundesliga zuschütten. Und Schiedsrichtern den Druck nehmen, Zentimeterentscheidungen im Bruchteil einer Sekunde zu treffen.
Nur: Man muss eben wirklich wollen.