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the Day after

Bei aller Freude auf das Derby am Sonntag, der wahre Thrill geht für mich am Samstag ab, wenn Altona den Gang in der Oberliga am Gramkowweg gegen Curslack-Neuengamme antritt. // Ein Trip vorbei an den Großen dieser Stadt.

Von Pfadfinder Jack

Imagefilme für Rostock und Mecklenburg-Vorpommern

Derbyfieber. Gedanken kreisen, mitten im Niemandsland zwischen alter Demarkationslinie, die Hamburg von Altona dereinst trennte. Vergangene Jahrhunderte wehen durch die nieselige Luft. Zwei Tage noch, dann kreuzen sich die Wege zwischen dem FC St. Pauli und dem Hamburger SV, seit Wochen schreiben sich die lokalen und auch überregionalen Gazetten die Pfoten wund, als stünde the Day after bevor.

Im fiesen Stellinger Peitschregen

Da ein USP-Tag, das 54ste, das ich in dieser Woche alleine im Hamburger Westen zähle, bestimmt gesprayt von einem kreativen Freigeist, heißblütiges Anarchoherz mit dem Impetus der sozialen Gerechtigkeit. Und dort, ein kurzhaariger verpickelter Typ in HSV-Trikot, bestimmt ein schwulenfeindlicher Rassist. Doch irgendwie nervt dieses stereotype Rechts-/Linksschema, ist seit rund zehn Jahren out.

Ich brauche ein neues Thema und halte die Nase in die nasskalte Septemberluft. Zumindest das Wetter ist neutral. Welcher HSVer kennt es nicht, bei hechtender Zugsuppe seinen frosteligen Hintern auf einer kargen Plastikschale hin- und herzuwackeln, nur froh, dass die Zeiten, als man zwischen Block A und F, auch noch bei einem 0:2 gegen Schalke, vom fiesen Stellinger Peitschregen durchtränkt, dem Sensenmann begegnete und den Novembertod küsste, was einem fünf Wochen Metagrippe bescherte, vorbei sind.

Welcher Paulianer nicht diese von der stürmischen Nordsee hereinprasselnden und von heftigen Orkanschüben begleiteten achtschwänzigen Wetterungeheuer, die das Gesicht gerbten, dass man hinterher aussah wie ein alter Lederschuh, auch ohne 12 Astra und 20 Selbstgedrehte. Es verbindet also mehr, als die meisten Fans beider Lager glauben.

Temporär ist der Strukturwandel für mich zu fixieren auf so ca. 2004.

Damals sah ich Marinus Bester in einem SUV durch Ottensen kutschieren, die Gentrification war im vollen Gange. Ich, knallharter HSV-Fan, mit diversen Verbindungen ans Millerntor. Nach meinem knapp einjährigen Leo-Kirch-Intermezzo an der Isar, war ich eher notgedrungen als Lokalreporter bei der Bergedorfer Zeitung gelandet.

Schlägereien in der Kreisliga 3

Statt sich im Trainingslager von Bayer Leverkusen von Michael Ballack blöde anranzen (arroganter Sack!) zu lassen oder Callis Bauchredekünsten bei Kuchenkrümmel vernaschen zu lauschen („als Rudi bei uns angefangen hat, konnte er gerade mal ’ne Coladose aufmachen“), nun also multikulturelle Schlägereien in der Kreisliga 3 und kryptisch-kyrillische Interviews mit Russlanddeutschen von Atlantik 97 im altehrwürdigen Billtalstadion, immerhin zweitgrößte Fußballmanege Hamburgs (sic!).

Und was hat das nun mit dem Derby zu tun? Später mehr.

Bester also, jener Haudegen, der in den späten Neunzigern einmal beim Amateurspiel für den Lüneburger SK bei den Amateuren des FC sein Trikot gelüftet und ein HSV-Shirt zum Vorschein gebracht, woraufhin es wilden Tumult gegeben hatte. Nun also, nur wenige Jahre später, die ganze Szene komplett neutralisiert.

Teammanager späht nach Altbauwohnungen

Wo früher einmal versoffene Hardcore-Punker vor Bolle rumgelungert hatten, späht nun also der Teammanager der Rothosen nach adäquaten Altbauwohnungen, für Fußballmillionarios zu Penthouse-Käfigen verschandelt. Natürlich im Nukleus multikultureller Neureicher, schließlich spielen beim HSV 90 Prozent Ausländer. Globalisierung mit Raute im Herzen, anstatt tumbe Nazischläger und Santa-Fu-Veteranen in der Westkurve.

Was jahrzehntelanger linker Kulturkampf und moralapostolisches Gutmenschentum nicht geschafft haben, gelingt nun durch die Monetarisierung der System- (Bosman, EU, Vereine als Kapitalgesellschaften) und Lebenswelten (halbseidene Spielerberater, Abloungen in der Schanze, „Herr Ober, noch ein Latte“).

Wo früher der gediegene HSV-Profi in Norderstedt im Einfamilienhaus mit Frau, Kindern und Bobtail lebten und höchstens mal heimlich nach sieben Whiskey-Cola mit einem Spielerkumpel per Taxi über’n Kiez bretterte, flanieren heute kroatische, deutsche oder ivorische Nationalspieler durch die Marktstraße oder das Schulterblatt. Und was ist mit den Zecken?

Um deren Transformation zu analysieren, lohnt alleine ein Blick in den Stadtteil, mit dem sie sich ja so heroisch identifizieren. Fabian Boll, Mittelfeldrecke der Braun-Weißen und im Hauptberuf Kriminaloberkommissar sagte mir neulich im Interview, dass auch auf St. Pauli, dem ärmsten Stadtteil Hamburgs, der Strukturwandel moderner Metropolen Einzug hält. „Vom Leben auf der Straße, bis zum Penthouse an der Elbe, da ist alles dabei“, beobachtet der Kommissar mit Argusaugen. „Das spiegelt unseren Spagat wider, Gelder generieren zu müssen und dennoch den ursprünglichen Charme zu bewahren.

Außenseiterimage weckt Begehrlichkeit

Philipp Markhardt, Mitglied der HSV-Fangruppe Chosen Few, erzählte mir treffend: „Exzellente Vermarktung des Außenseiterimages weckt bei jedem pubertierenden Punk und Hippstern aus der Oberschicht die Begehrlichkeit der Zugehörigkeit zu ,den Anderen‘.“ Man könnte auch sagen, dass die Revolution ihre Kinder längst gefressen hat.

Wäre St. Pauli eine Partei, man müsste sicherlich die Grünen nehmen, mittlerweile die Partei moderner Großstadtklientel. Geboren im idealistischen Wust der späten 70er, aufstrebendes Gegenmodell der 80er, Zwangsehe mit den Kapitalisten in den 90ern und angekommen in der gesellschaftlichen Mitte der Gegenwart.

Die Realos haben die Fundis überflügelt

Okay, sie haben die Republik in ihren Grundzügen verändert, wie die Braun-Weißen auch die Stadionkultur. Wo nachhaltige Ökopolitik heute Konsens aller Parteien ist, hat die Anti-Rassismus-Kampagne, die am Millerntor ihren Ursprung nahm, für ein im Wesen tolerantes Klima in allen Bundesligastadien gesorgt. Doch eben wie die Grünen, müssen sich die Paulianer gefallen lassen, dass hinter einer vermeintlich bunten Fassade ein strukturkonservativer Kern steckt. Die Realos haben die Fundis überflügelt.

Da lobe ich mir doch nach wie vor die holde Griegstraße und Altona 93, womit wir wieder beim Amateurfußball wären. Die Adolf-Jäger-Erben wissen, dass Erfolg seinen Preis hat. Nur, um in der vierten Liga zu kicken, hätten die Schwarz-Rot-Weißen fast ihre Seele verkauft.

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Der wahre Thrill am Gramkowweg

Doch der Arbeiterstadtteil trotzte dem Versuch der Gentrifizierung per Auflagen des DFB. Ebenso wie Freaks über pervertierte Schweinemieten aus ihren angestammten Stadtteilen vertrieben werden, um durch Yuppies ersetzt zu werden, versucht man traditionellen Fußballklubs qua teurer Reglementierung das Gesicht zu zerschmettern und in den Wust stromlinienförmigen Spießerfußballs zu überführen.

Bei aller Freude also auf das Derby am Sonntag, der wahre Thrill geht für mich am Samstag ab, wenn Altona den Gang in der Oberliga am Gramkowweg gegen Curslack-Neuengamme antritt. Die haben zwar längst einen, vom reichen Privatmäzen gesponserten, Kunstrasen, doch immerhin radelt man auf dem Weg dorthin an Ziegenböcken und Elbdeichen vorbei.

Ob’s schifft oder die Sonne scheint, Fußballromantik pur.

Benny Semmler

Papa, Blogger, Mitgründer FRISCHER FILM, Seniorenspieler USC Paloma, Mitglied UnterstützerClub des FC St. Pauli, Towers-Fan und Gotnexxt.de-Follower.